"Wir sind beide auf Zehenspitzen rein und haben uns ganz vorne hingesetzt – wir waren wirklich interessiert und haben aufmerksam zugehört", erzählte die medizinische Forscherin, Utako Okamoto, über eine pädiatrische Konferenz in Tokio. Sie hatte eine Kollegin gebeten, sie zu begleiten. "Dann – ich erinnere mich an sein Gesicht, wahrscheinlich war er Professor für Pädiatrie – kam ein Mann, der uns aufforderte aufzustehen. Wir standen auf und folgten ihm, ohne zu wissen, warum. Er sagte nur: 'Diese Veranstaltung ist nicht für Frauen und Kinder.'"

Beim Einlass hatte die Medizinerin angegeben, als Forschungsassistentin im Physiologie-Institut der Keio-Universität in Tokio zu arbeiten. "Diesem Mann war das egal", sagte Okamoto im Gespräch mit Ayumi Naito und Ian Roberts. Die Medizinerin, deren Entdeckung später hunderttausenden Menschen das Leben retten würde, erlebte in den 40ern, als sie ihre Karriere begann, viele Erniedrigungen von Männern. Damals waren Frauen in der japanischen Forschungslandschaft eine Seltenheit.

Während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges untersuchte Okamoto die Reaktion des Kleinhirns auf chemische Signale. "Labortiere waren leicht verfügbar, solange wir sagten, dass unsere Forschung für die Armee relevant sein würde", erzählte Okamoto. Ihr Vorgesetzter, Takashi Hayashi, war bekannt dafür, Frauen in seinem Labor fair zu behandeln. Doch das alles hielt nicht lange: Mit Ende des Krieges endeten auch die militärischen Forschungsmittel. Das Geld für Versuchstiere war knapp. Also wechselten Utako Okamoto und ihr Mann Shosuke, auch Mediziner, zur Forschung an Blut. Sie dachten sich angesichts eines möglichen Mangels an Blutreserven: „Wenn es nicht genug gegeben hätte, hätten wir einfach unser eigenes nehmen können", erinnerte sich Okamoto.

Utako Okamoto mit Shosuke und ihrer Tochter Kumi
Da es keine Kinderbetreuungsstätte gab, musste Okamoto ihre Tochter ins Labor, in dem sie mit ihrem Mann arbeitete, mitnehmen.
privat

"Es gab keine Trennung zwischen Arbeit und Leben"

In den 1950ern gelang dem Ehepaar der Durchbruch: Sie entdeckten Tranexamsäure. Ein Soff, der starken Blutverlust stoppt. Tranexamsäure blockiert die Bildung von Plasmin. Anders als Medikamente, die die Blutgerinnung fördern, wirkt der Arzneistoff indem Blutgerinnsel, die natürlich entstehen, sich nicht auflösen – zusätzliche, unerwünschte Gerinnsel entstehen aber nicht. "Das Medikament scheint bemerkenswert sicher zu sein", sagt der Pädiater und Forscher an der Londoner Hochschule für Hygiene und Tropenmedizin, Ian Roberts, im Gespräch mit dem STANDARD. Zuvor wurde das Mittel bei Operationen eingesetzt – in der Notfallmedizin jedoch nicht. In einer großangelegten klinischen Studie fand Roberts heraus, dass Tranexamsäure auch bei Traumata funktioniert. "Wir dachten uns, das ist eine lebensrettende Behandlung für Verletzungen."

Im Zuge seiner Forschung wollte Roberts herausfinden, wer hinter dem risikoarmen Medikament steckt. "Ich stellte mir vor, dass Tranexamsäure von einer Pharmafirma oder etwas Ähnlichem erfunden wurde. Erst als ich begann zu recherchieren, habe ich herausgefunden, dass es in Japan erfunden wurde", erzählt Roberts. Seine japanische Frau, Ayumi Naito, ebenfalls Pädiaterin, übersetzte für ihn. Sie fand heraus, dass ein Ehepaar den Wirkstoff entdeckt hatte und dass Shosuke bereits verstorben war, Utako Okamoto aber noch in Kobe, Japan, lebte. "Ich sagte nur, okay, lass uns sie besuchen", entschied der Mediziner. Mit den Ergebnissen der Studie in der Tasche reisten Roberts und Naito mit einem Kamerateam nach Kobe und besuchten Okamoto.

2011 lernten sie die damals 93-Jährige kennen. An Ruhestand dachte sie damals nicht. Trotz ihres hohen Alters hatte sie noch einen "sehr aktiven Geist", erzählt Roberts. Nach wie vor arrangierte sie Termine mit ihrem Forschungsteam in einem Labor bei sich zu Hause. "Wir gingen in ihr Haus, ein typisches japanisches Haus, und es hatte den Namen 'Kobe-Hämostase-Projekt'. Es gab keine Trennung zwischen Arbeit und Leben", erinnert sich Roberts. Bei seinem Besuch überreichte er Okamoto eine Ehrenurkunde des Teams hinter der Studie an Trauma-Patienten. Darauf fragte sie sofort: "Was ist mit postpartalen Blutungen? Dafür haben wir das Medikament entwickelt."

Utako Okamoto und Ian Roberts sitzen nebeneinander
Bei seinem Besuch überreichte Ian Roberts der Forscherin Utako Okamoto eine Ehrenurkunde.
privat

Eine eigene Kinderbetreuungsstätte

Ihr selbst wurde eine Studie an Frauen, die unter Blutungen nach dem Gebären litten, immer wieder verwehrt. "Wir haben Blutungen bei Müttern ständig mit Gynäkologen besprochen, wir hatten so viele Diskussionen zu dem Thema", sagte die Forscherin. An der Keio-Universität hätte es, so Okamoto, die Möglichkeit gegeben, Tranexamsäure an Frauen mit postpartalen Blutungen zu erforschen. Doch die Gynäkologen hatten kein Interesse an dem Medikament. Es war nicht die einzige Hürde, die Okamoto in ihrer Karriere zu überwinden hatte. Roberts erzählte sie, dass die Menschen bei einer Präsentation ihrer Arbeit dachten, sie würde für sie tanzen. "Sie sahen mich mit großer Verwunderung an, als wäre ich etwas ganz Merkwürdiges", erzählte Okamoto.

Die Männer hätten immer gedacht, sie seien ihr überlegen. "Das habe ich zu meinem Vorteil genutzt, indem ich ihre Egos gestreichelt habe", erzählte die damals 93-Jährige. Bis sie eine Tochter bekam, konnte sie die Nachteile, die mit der Diskriminierung gegen Frauen einhergingen, durch mehr Arbeit ausgleichen. Anstatt wie die Männer acht Stunden zu arbeiten, machte sie zehn Stunden. Das ging aber nur bis zu dem Zeitpunkt, als ihre Tochter auf die Welt kam. Sie musste das Baby auf dem Rücken ins Labor tragen. Roberts und Naito erzählte sie, wie schwer es war, eine Betreuung für ihre Tochter zu finden. Okamoto musste arbeiten, während ihre Tochter schlief, und hoffen, dass sie sich benehmen würde. Aus der Not gründete sie selbst eigene Kinderbetreuungsstätte. Ohne solche Einrichtungen konnten Frauen damals nicht arbeiten, meinte die Forscherin. Später wechselte Okamoto an die Universität in Kobe und wurde dort Professorin. Und sie begründete ihre eigene Forschungsgruppe, vorwiegend mit Forscherinnen. Ihr Team wurde von Kolleginnen sehr geschätzt, auch weil deren Kinder vor Ort betreut wurden.

Bei seinem Besuch erzählte Roberts von seinem nächsten Forschungsprojekt, der Woman-Studie. Dabei sollte Tranexamsäure an Frauen mit postpartalen Blutungen getestet werden – wie Okamoto es zeitlebens gefordert hatte. "Das hätte vor Jahrzehnten gemacht werden sollen", antwortete Okamoto auf die Ankündigung, "es ist für mich keine neue Idee, dass Plasmin mit postpartalen Blutungen zusammenhängt." Das Studienergebnis sollte das bestätigen: Das Sterberisiko von Frauen mit Blutungen sank nach der Behandlung mit Tranexamsäure um ein Drittel. Blutungen sind die häufigste Todesursache für Frauen bei der Geburt. "Durch ihre Entdeckung konnten weltweit hunderttausende Menschenleben gerettet werden. Es ist ihr großes Vermächtnis", erzählt Roberts. Okamoto starb wenige Wochen, bevor die Ergebnisse der Woman-Studie bekannt wurden. Roberts stimmt das jedoch nicht traurig: "Das spielt keine Rolle, denn sie hat mir gesagt, dass sie weiß, was rauskommen wird. Sie war sich sicher, dass es wirksam sein würde." (Isadora Wallnöfer, 24.11.2023)