Der Verlag hätte es ruhig verraten können, es hätte wohl kaum jemanden abgeschreckt: Der "Roman" Wilma, eher eine Novelle, ist kein neues Buch, Evelyn Grill hat den 1994 bei Suhrkamp erschienenen Text für die Neuausgabe bloß überarbeitet.

Es ist die beeindruckende Geschichte eines geistig behinderten Mädchens, das in einer prekären Zweisamkeit mit einer älteren Frau geborgen und zugleich gefangen ist. Agnes, Wilmas Schutzherrin, verwitwet und kinderlos, liebt das Mädchen, liebt es, weil sie es braucht, braucht es, weil sie es liebt, wer wollte das so genau auseinanderhalten. Wilma bleibt das hässliche dicke Entlein, das von seinen Eltern verlassen wurde, ohne Agnes müsste sie im Heim leben. Im Dorf, irgendwo im Salzkammergut, ist die Behinderte, die täglich zum Friedhof hinaufschnauft, allen ein Ärgernis. Wilma erledigt einfache Arbeiten im Haushalt und trägt jahrein, jahraus ihre zwiebelartig geschichteten Röcke. Sie spricht nicht, ist aber oft guter Dinge, vor allem, wenn sie isst. Auf Musik reagiert sie mit Begeisterung, Berührung erträgt sie nicht, Agnes muss warten, bis Wilma eingeschlafen ist, bevor sie sich an sie drücken kann.

Von Anfang an regiert hier der Tod: "Blechern und hohl tönt es, das Totenglöckchen." Zwei Begräbnisse finden statt, genau genommen drei, und da ist das der Protagonistin noch gar nicht eingerechnet. Unschuldig ist das Opfer, aber nicht harmlos, für die Maus in ihren Händen ist Wilma die tödliche Gefahr - sie "gibt sich dem pelzig warmen Gepoch, dem kralligen Gekitzel ihres Fanges hin. Ein spitzer Schmerz reißt sie aus ihrer Lust. Erschrocken krampft sie die Faust. Als sie die Hand langsam wieder öffnet, gleicht das Tier einem zerknüllten Lappen. Aus der Schnauze sickert es rot und fadendünn."

Wilma stammt augenscheinlich aus der präopulenten Phase des Grill'schen Schreibens, beherrscht und konzentriert rückt die Autorin ihren Figuren zu Leibe, betrachtet sie meist von außen, notiert, was sie tun, fasst, was an menschlichen Exzessen schwer zu fassen ist, in Worte, die gleichsam knapp sitzen, die über Brust und Bauch spannen und keinerlei Spielraum für Rührseligkeit lassen.

Hoffnungslose Existenzen

Evelyn Grills Fasziniertsein von kollektiver Grenzüberschreitung, von Monstrosität und Grausamkeit, wie es sich zuletzt in den Romanen Vanitas und Der Sammler austoben durfte, ist hier bereits ausgeprägt, scheint aber von einer Selbstverpflichtung zum Realismus noch im Zaum gehalten.

Wilma zeigt auf schaurig-fesselnde Weise, wie ein fremder Übergriff die Symbiose der beiden Bedürftigen stört und schließlich zerstört, wie eine Verletzung die nächste nach sich zieht, wie bald ein wahrhaft antikes Verhängnis tickt. "Es scheint Agnes, als sei sie verpflichtet, mit dem Unvorhergesehenen zu rechnen, als sei sie der Igel aus der Fabel - und die Zeit der Hase, den es zu überlisten gilt."

Doch es hilft nichts, dass sie den Schutzraum immer enger macht, ihren Schützling zusehends aus dem Verkehr zieht, um den anderen keine Angriffsfläche zu bieten. Wilma wird vergewaltigt, wird schwanger. Wo Sexualtrieb, Bosheit und Neugier walten, ist den Leuten alles zuzutrauen, sogar jenen, die man zunächst für die Guten halten will. Unter lauter dumpfen Dörflern hat der Künstler einen Sympathiebonus, den er nicht verdient: Ihm geht es zuallererst um seine Kunst - auch das ein Leitmotiv in Evelyn Grills Werk.

In Wilma malt die Autorin ein Dorf von seltener, leuchtender Düsternis, eine Art Fantasie-Hallstatt, eng, tratschsüchtig und borniert, kaum gestattet sie ihren Lesern einen Lichtblick - nicht zufällig ist es eine Außenseiterin, eine Frau von zweifelhaftem Ruf, die der bedrängten Agnes zu Hilfe kommt.

Von dem Tunnel, der den Ort für den Fremdenverkehr öffnen soll, ist auch keine atmosphärische Verbesserung zu erwarten; die Arbeiter, die ins Dorf einsickern, hoffnungslose Existenzen aus einem Niemandsland, kommen als Störenfriede. Grills Alpenwelt strahlt eine Kälte, eine Finsternis aus, die noch einen Thomas Bernhard das Fürchten hätte lehren können. (Daniela Strigl, DER STANDARD, Print, 1./2.3.2008)