Immer mehr essen als einer(m) gut tut als typisches Zeichen von Adipositas
Der Standard

Immer zuviel essen oder anfallsartig riesige Mengen hochkalorischer Nahrungsmittel verschlingen. Adipositas, umgangssprachlich Fettsucht genannt, und Binge Eating Disorder (BED) erhalten in der medialen Berichterstattung über Ess-Störungen zu wenig Beachtung. Dabei sind beide Krankheitsbilder weit verbreitet und sogar im Steigen begriffen.

Obwohl Adipositas und BED hinlänglich ihrer Ursachen und ihrer psychischen als auch physischen Auswirkungen auf die Betroffenen - Kontrollverlust, Schamgefühle, Isolation, Übergewicht etc. - Ähnlichkeiten aufweisen, gilt Fettsucht nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD - 10) nicht als diagnostische Ess-Störung.

Gabriele Haselberger, Bewegungsanalytikerin und Mitarbeiterin vom Therapiezentrum intakt, erörterte im Gespräch mit Dagmar Buchta, wie die beiden Krankheitsbilder aussehen und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um wieder gesund zu werden.

Was ist typisch für Adipositas?

Bei Adipositas (lat. adeps = fett) bzw. Fettleibigkeit, Fettsucht, Obesitas (selten Obesität; im Englischen fast nur "obesity") handelt es sich um starkes Übergewicht, das durch eine über das normale Maß hinausgehende Vermehrung des Körperfettes mit krankhaften Auswirkungen gekennzeichnet ist. Während von Übergewicht ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 27 gesprochen wird, liegt eine Adipositas ab einem BMI von 30 vor, wobei drei Schweregrade unterschieden werden. Indikatoren für den Anteil von Körperfett und dessen Verteilung sind der Bauchumfang und das Taille-Hüft-Verhältnis. Bei dieser Erkrankung wird beständig zuviel gegessen, es handelt sich um sogenanntes "Grasen", um ständiges auf der Suche sein nach Nahrung.

Woran erkennt man Binge Eating Disorder?

Eine Erkrankung an Binge Eating Disorder liegt dann vor, wenn mindestens an zwei Tagen in der Woche Ess-Attacken auftreten und zwar über einen Zeitraum von sechs Monaten. Dabei werden große Mengen hochkalorischer Nahrungsmittel zumeist in kurzer Zeit gegessen, aber anschließend - im Gegensatz zu Bulimie - nicht erbrochen. Als weitere Symptome gelten besonders schnelles Essen, Essen ohne Hunger. Aufgrund von Gefühlen der Schuld, Scham oder Peinlichkeit wird allein gegessen; danach treten Gefühle von Ekel, Schuld oder Depressionen auf. Die Ess-Attacken werden zunehmend als belastend empfunden.

Mehr noch als alkoholkranke Menschen verstehen es Binge-Eater geschickt, die Erkrankung selbst vor nahen FreundInnen oder Familienangehörigen zu verbergen. Im anglo-amerikanischen Raum gibt es die "Overeaters Anonymous", die davon ausgehen, dass Nahrung genauso Abhängigkeit erzeugen kann wie Alkohol oder andere Drogen, und mit einem ähnlichen 12-Punkte-Programm wie die Alkoholiker-Gruppen arbeiten. Übrigens sind anders als bei Magersucht oder Bulimie bei Binge Eating Disorder auch viele Männer betroffen - etwa 35 Prozent der PatientInnen.

Welche Ursachen und Auslöser gibt es?

"Das ist sehr vielschichtig", erklärt Gabriele Haselberger. "Oft kann auch bei dieser Ess-Störung eine erste Diät als restriktives Essverhalten ein Einstieg sein. Meistens sind es traumatische Erlebnisse, das Gesprächsklima zwischen den Eltern untereinander und den Kindern etc. Es geht auch darum, welche Rolle das Essen in der Familie spielt, ist es ein Kommunikationsmittel, fungiert es als Tröster oder welche Funktion wird ihm zugeordnet..." Es handle sich um eine ganze Reihe von somato-psycho-sozialer Faktoren, die zusammenspielen können.

Hilfreich sei jedenfalls, meint Gabriele Haselberger, wenn Essen als sinnliches Erlebnis wahrgenomen werden könne: "Riechen, schmecken und sehen in einer entspannten Ess-Atmosphäre". Und wenn andere Möglichkeiten des Stress-Abbaus gefunden werden. "Übergewichtige sind mehr als nur ihr Gewicht! Sie sind Menschen mit Gefühlen, mit Interessen, Leidenschaften, Ängsten, Träumen, Fähigkeiten". Daher sei das Vermeiden von Diäten und restriktivem Essverhalten, die bekanntlich für Ess-Attacken förderlich sind, und regelmäßige Nahrungsaufnahme wesentlich.

Welche ersten Schritte sind möglich?

Als erstes geht es darum herauszufinden, in welchen Situationen die Ess-Attacken auftreten. Welche Gefühle gehen den Anfällen voraus? Gibt es Auslöser? Die Betroffenen können für sich abklären, welcher Hunger eigentlich dahinter steckt. "Ist es tatsächlich Hunger auf Nahrungsmittel, oder geht es um einen schwelenden Konflikt, um bestimmte Gefühle wie Traurigkeit, Wut, Erschöpfung, Stress, Langeweile etc., die mit dem Essen kompensiert werden sollen", so Haselberger, und "wäre beispielsweise ein heißes Schaumbad angebrachter als eine Ess-Attacke, oder ein gutes Gespräch mit einer Freundin oder eine Runde Laufen im Park, um überschüssige Energien abzuführen etc... ". In diesem Vorfeld kann das Führen von Essensprotokollen helfen, die unkontrollierten Essanfälle genauer zu erforschen, die möglicherweise ein Symptom bzw. eine Lösungsstrategie für das dahinter Stehende darstellen.

Wo kann Hilfe gesucht werden?

Wer es alleine nicht schafft, sollte sich um Unterstützung umschauen. Scham der Betroffenen darüber, unfähig oder zu lasch zu sein, seien nicht angebracht, meint Gabriele Haselberger. Vielmehr sei es wichtig, sich zu trauen und Hilfe anzunehmen. "Ein möglicher erster Schritt kann sein, sich einmal im Internet auf Websites, in Foren und Hotlines zu informieren und die Angebote von Selbsthilfegruppe zu studieren. Verschiedene Beratungsinstitutionen und Therapiezentren wie intakt bieten auch Email-Beratung an. Wenn dann der Entschluss gefasst wird, etwas zu tun, ist es wichtig, wie bei anderen Ess-Störungserkrankungen auch, den gesundheitlichen Status abzuklären und parallel dazu psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um die Ursachen hinter den Essanfällen zu klären. Und vielleicht ist es notwendig, eine andere Haltung zu sich und zu seinem Leben zu entwickeln. Und dazu gehöre eben auch, die Lebensgewohnheiten, die sich eingeschliffen haben, zu überdenken, neu anzuschauen und neuen Lebensmut zu entwickeln".