Menschen mit Binge Eating Disorder kaufen große Mengen an Lebensmitteln, um sie dann in kürzester Zeit aufzuessen.
Daniel Roland

Die Initialien E. K. sind frei erfunden, um die Anonymität der Interviewten zu schützen. Das Gespräch führte Dagmar Buchta.

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dieStandard.at: Wie lange haben Sie unter Ess-Attacken gelitten?

E.K.: Etwa zehn Jahre. Ganz selten überkommt es mich auch jetzt noch - im Vergleich zu früheren "Ausfällen" fällt das aber in die Kategorie "zu viel gegessen" und nicht "komplett überfressen".

dieStandard.at: In welchem Alter ist die Erkrankung aufgetreten?

E.K.: Ich war 16. Damals habe ich begonnen, wahllos Essen in mich hineinzustopfen. Nachmittags, nach der Schule. Natürlich nur, wenn ich allein zu Hause war. Ich wollte nicht, dass mein "Heißhunger" jemanden auffällt. Beim Essen mit anderen habe ich ganz normale Portionen genommen - "öffentliches Fressen" war für mich tabu. Natürlich ist es meiner Familie aufgefallen, dass mein Gewicht stark schwankt - meine Eltern haben mit einem "Reiß dich doch zusammen" reagiert.

dieStandard.at: Wieviele Kilo haben Sie in dieser Zeit zugenommen?

E.K.: In den ersten zwei Jahren habe ich ständig ab- und zugenommen, in einer Gewichtsspanne von etwa fünf Kilo. Ich habe gefressen, dann Diät gehalten, gefressen, Diät gehalten. Nach der Matura bin ich ein Jahr ins Ausland gegangen. Da sind alle Hemmungen gefallen. Mein Gewicht hat dort niemanden interessiert, niemand hat mich kontrolliert. Um zehn Uhr morgens hatte ich meistens schon zwei Tafeln Schokolade gegessen. Ohne Genuss - ich habe einfach alles in mich hineingestopft, was ich in die Finger bekommen habe. Oft bin ich auf meinem Bett gelegen und konnte mich nicht mehr rühren. Mir war unglaublich schlecht, in diesen Momenten habe ich mich selbst gehasst. Aber wenn nichts zu essen im Kühlschrank war, bin ich rotiert. Innerhalb eines halben Jahres habe ich 20 Kilo zugenommen.

dieStandard.at: Unter welchen Umständen traten die Ess-Attacken auf?

E.K.: Ich hatte oft das Gefühl einer "inneren Unruhe" - wenn ich Stress hatte, überfordert war, mich alleine gefühlt habe. Das habe ich alles mit Essen bekämpft.

dieStandard.at: Was glauben Sie war bei Ihnen die Ursache für diese Erkrankung? Und gab es einen bestimmten Auslöser?

E.K.: Das ist schwer zu sagen. An einen Auslöser kann ich mich nicht erinnern. Ich war immer sehr ehrgeizig und diszipliniert, ein, wenn man so will "braves Mädel" halt. Meine Selbstkontrolle habe ich nur beim Essen abgelegt - das hat schlussendlich zu meinem Suchtverhalten geführt.

dieStandard.at: Hat es Ihrer Meinung nach bestimmte Prägungen bzw. Traumata in Ihrer Kindheit und Jugend gegeben?

E.K.: In meiner Familie war es immer wichtig, auf sein Gewicht zu achten. "Du musst mehr Sport machen", "Iss nicht so viel", das kam von Seiten meiner Eltern schon relativ früh. Mit meinem späteren Übergewicht konnten meine Eltern nur schwer umgehen. Ich bekam oft das Gefühl, dass sie in mir nicht mehr als die 80 Kilo gesehen haben, die ich auf die Waage brachte.

dieStandard.at: Welchen Stellenwert hatte Essen bei Ihnen zuhause?

E.K.: Essen war immer ein Thema, vor allem das "zu viel". Deswegen habe ich schon früh begonnen, mir ab und zu heimlich etwas zu gönnen.

dieStandard.at: Suchten Sie ärztliche und / oder therapeutische Hilfe? Wurde dabei die Diagnose Binge Eating Disorder gestellt? Oder wussten Sie selbst durch Lektüre etc. darüber Bescheid?

E.K.: Ich habe Anfang 20 mit einer Therapie begonnen. Damals ging es mir einfach generell schlecht, ich war total desorientiert und habe mich vor allem selbst gehasst, weil ich meine Anfälle einfach nicht unter Kontrolle bekam. Ich wollte unbedingt abnehmen. Andere wollten auch, dass ich abnehme. Hungern, fressen, hungern, fressen, das war mein Lebensinhalt damals, am Ende hab ich es weder mir selbst noch den anderen Recht machen können: Das Gewicht ist gleich geblieben. Meine Therapeutin damals konnte mit den Fressattacken, die ich ihr beschrieben habe, nicht viel anfangen. Sie hat mir geraten, mir halt "ein Schaumbad zu gönnen", wenn mir alles über den Kopf wächst, und nicht gleich den Kühlschrank zu plündern. Und wenn schon essen, dann mit Genuss. Das war nicht unbedingt hilfreich, ich habe den Fehler wieder bei mir gesucht. Ich bin nie davon ausgegangen, dass ich eine Krankheit haben könnte - ich habe erst vor acht Monaten erfahren, dass es eine Ess-Störung mit meinem Krankheitsbild gibt.

dieStandard.at: Was glauben Sie, welchen Einfluss Frauenbild und Medien auf die Entstehung von Ess-Störungen haben?

E.K.: Eine schöne Frau ist eine schlanke Frau - das ist der Status quo, das ist auch das Frauenbild, das die Medien vermitteln. Wenn die Ess-Störungsthematik aufgegriffen wird, dann meist sehr einseitig: Im Zentrum stehen Magersucht und Bulimie. Ausgemergelte, halb verhungerte Mädchen- und Frauenkörper erregen Mitleid, die Gesellschaft fühlt mit ihnen. Binge Eating Disorder ist eine Krankheit, die genauso selbstzerstörend ist - nur: Verständnis gibt es dafür keines. Übergewicht ist eben anders konnotiert als Untergewicht: Da heißt es nicht "Mein Gott, du armes Ding", sondern "Du kannst dich wohl nicht zusammenreißen. Ist ja widerlich."

dieStandard.at: Wodurch und wie fanden Sie aus der Erkrankung wieder heraus?

E.K.: Das klingt jetzt zwar ziemlich banal, aber: durch meine jetzige Beziehung. Da war plötzlich jemand, der nicht mit "Beherrsch dich halt" auf mein Übergewicht reagiert hat, sondern hinterfragt hat, was da los sein könnte. Ich konnte mit jemanden über meine Anfälle reden, der den Fehler nicht gleich bei mir gesucht hat. "Bevor du den Kühlschrank aufmachst, ruf mich an" - das hat geholfen. Auch, weil dann kein "Nein, tu es nicht!" gekommen ist, sondern einfach jemand zugehört hat. Die Selbsterkenntnis, eine "Binge Eaterin" zu sein war wohl am hilfreichsten - ich war einfach erleichtert, mir selbst mein abnormes Essverhalten erklären zu können. Das Bedürfnis, mich mit Essen voll zu stopfen, ist in den vergangenen Monaten immer weniger geworden.

dieStandard.at: Wie ist Ihr Essverhalten heute? Befürchten Sie wieder einmal hineinfallen zu können? Uund haben Sie irgendwelche Strategien für ein gesundes Essverhalten entwickelt?

E.K.: Ich bin zur Zeit sehr optimistisch. Es geht mir gut, ich esse "normal", verbiete mir nichts, mache mir aber schon Gedanken, warum ich etwas esse - Hunger, Appetit, oder ist es gar kein körperliches Bedürfnis? Sollte es wirklich einmal zu einem Rückfall kommen, lasse ich mir ganz sicher professionell helfen - ich will meinem Körper keine Fressattacken mehr antun. Meiner Seele auch nicht.