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Latife Hanim (1900 - 1975) war zweieinhalb Jahre mit Mustafa Kemal Atatürk verheiratet. Der Republikgründer ließ sich 1925 von ihr scheiden - ganz "einfach" nach traditionell islamischem Recht, dessen Opponent er politisch gesehen war.

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Ipek Calislar hat sich in ihrem nun auch auf Deutsch erhältlichem Buch "Mrs. Atatürk" mit der Ehefrau Mustafa Kemals, Latife Hanim, und deren gesellschaftspolitischer Rolle auseinandergesetzt. Mit ihrer Aufarbeitung anhand von ZeitzeugInnendokumenten wie Briefwechsel und Zeitungsberichten gelingt es ihr, das Porträt einer großteils Unbekannten so greifbar zu machen, dass es leicht fällt, sich in die Zeit und die Frau hineinzuversetzen, die beide durch Widersprüche geprägt sind. Spannend.

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Mustafa Kemal Atatürk, der "größte Türke aller Türken", nahm sich 1923 eine junge Frau zur Gemahlin. Latife Hanim stammte aus einem für damals säkularisierten Umfeld. Ihr Vater erlaubte ihr Bildung, sie lernte Arabisch, Englisch, Französisch, gar Griechisch und hatte eine juristische Ausbildung genossen. Sie las viel, beschäftigte sich mit Politik, war Feuer und Flamme für den Reformer und Soldaten Mustafa Kemal Pascha.

Das Schicksal führte die beiden zusammen. Zwei Wochen später überrumpelte Atatürk Latife mit der Heirat, auch wenn er damals mit einer anderen liiert war. Nicht einmal den Hochzeitstag durfte sie sich aussuchen, die zu einem simplen Zusammensein Geladenen - im von Atatürk zu seiner Kommandozentrale in Ankara umfunktionierten Haus der Familie Latifes, das er Tage zuvor annektiert hatte - wurden zur Hochzeitsgesellschaft, weil der Pascha nicht länger warten wollte.

Zeichen des Umschwungs

Latife war Atatürks Tor zu Welt. Sie war emsig, belesen, eine perfekte Hausfrau, Hausherrin, Beraterin, Berichterstatterin. Sie schrieb Inhaltsangaben ganzer Bücher für ihren Gatten, die sie beim Abendessen vortrug. Sie schmückte sein Bett mit Rosen. Sie stärkte seine Laken. Sie versteckte kleine Dinge, die Kemal gerne suchte und fand. Oder auch nicht. Dann amüsierte er sich, weil seine kleine Latife, die er Latif - "hübsch" - nannte, so schlau war. Latife übersetzte für Kemal bei Empfängen. War Diplomatin. War sein Aushängeschild am Tor zum Westen, der Latife als Speerspitze eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins im Land empfand. Als ein Zeichen des Umschwungs, ein frischer Wind, ein Hauch von Hoffnung.

Frauenrechte, eine langsame Entwicklung

Die Frauenrechtsbewegung um 1925 wurde von Nezihe Muhiddin angeführt, und obschon Latife Hanim als von der Gleichberechtigung der Geschlechter überzeugte Frau die Aktivitäten der Bewegung unterstützte, befasste selbige sich umgekehrt nicht mit Latife. Auch andere türkische Zeitdokumente und Quellen erwähnen sie nicht, nur die Aussensicht, der Westen, schrieb ihr die Rolle einer Reformträgerin zu.

Die Erfolge der Frauenbewegung wurden lange nicht in Gesetze gegossen. Das Frauenwahlrecht war 1924 immer noch nicht eingeführt. 1926 trat ein Zivilrecht nach dem Schweizer Modell in Kraft, das Frauen im Eherecht besser stellte. Bis dato war das Zivilrecht noch fest in Männerhand: Polygamie war erlaubt, Scheidung ein ausschließliches Recht der Männer. Politisch mitbestimmen konnten Frauen erst in den 30er Jahren, als die ersten weiblichen Abgeordneten ins Parlament einzogen.

Tabubruch

Dass der westliche Eindruck von Latife als Frauenrechtlerin nicht aus wohlwollender Übertreibung zustande kam, erschließt sich aus ihrer Biografie: Denn die Tausendsasserin, die sich in der Öffentlichkeit auch ohne Kopftuch und in Reithosen zeigte, war eine Verfechterin der Frauenrechte. Schon als 18-Jährige kritisierte sie die Jungtürkenbewegung, die Frauen aussparte. Kemal zählte auf sie, wenn es um die Besserstellung der Frauen in der Türkei ging. Sie war im Parlament, sie hielt Reden, wollte Abgeordnete sein. Das war ein Tabubruch. Frauen war die Teilhabe an öffentlichen, politischen, gesellschaftlichen Geschehen nicht gestattet. Kemal nutzte Latifes eigene Bestrebungen zu seinem Zweck. Er wollte eine neue Gesellschaftsordung, die den Einfluss der Religion aus seinem Machtbereich verdrängte. Das konnte nur passieren über die Besserstellung der Frauen, die von den Proponenten des Islam und vom Kalifat in ihre marginale Rolle verwiesen wurden. So spielte Latife – zumindest im ersten Ehejahr – eine nach außen präsente Rolle. Im zweiten jedoch wurde es still um sie, um vor der Scheidung im dritten Jahr wieder aufzuflackern: Latife hatte sich zu einer Skeptikerin des Kemalismus entwickelt.

Die Widersprüchliche

Mit dem Selbstmord Fikriyes, der ewigen Geliebten Atatürks, die er wegen Latife verlassen hatte, begann die Ehe Latifes zu kriseln. Fikriye war und ist die Frau in Kemals Leben, die eine wohlwollende Rezeption durch ZeitzeugInnen und das Volk erfuhr. Sie betrachtete Kemals Wort als Gesetz, hieß es. Dennoch heiratete er nicht sie, sondern Latife, die Widersprüchliche. Doch das Ende dieser Ehe, über deren Motive ebenso widersprüchlich berichtet wurde, war nicht aufzuhalten: Latife wurde von vielen ranghohen Beamten als Ehrgeizige gesehen, die sich nicht neben Atatürk, sondern vor ihn stellen, ihn führen wollte; eine emanzipierte Frau, die sich nicht ausschließlich im Hintergrund bewegte, war suspekt. Latife thematisierte ihre Haltung gegenüber der atatürk'schen Politik, die sie nicht als die beste für die Türkei ansah, auch gegenüber ausländischen Gästen.

Sie fiel aus der Rolle, die Atatürk ihr zuwies: Solange sie ihr Engagement nur vor Frauen und in Frauenversammlungen einbrachte, war alles gut. Nur das tat sie nicht. Aber nicht nur auf politischer Ebene war es schwer für Latife: Atatürk belastete sie als notorischer Schürzenjäger mit emotionalen Bürden. Sie galt als sehr eifersüchtig, und sie verbarg dies nicht – im Gegenteil soll sie auch in Gesellschaften Szenen gemacht haben. Kemal selbst meinte, dass er seine Frau nie betrogen habe. Erst nach der Scheidung, der ein besonders schlimmer Streit voraus gegangen sein soll, soll er jegliche Kontrolle über monogame Bemühungen aufgegeben haben.

Scheidung nach islamischen Recht

Die Scheidung an sich ging während der Reformierung des Eherechts von Statten. Atatürk, der sich für eine Änderung einsetzte, zog es vor, in seinem Fall eine Ausnahme zu machen und vollzog die Trennung nach altem islamischen Recht: Latife hielt, heißt es, eine Scheidung aufgrund seiner politischen Position für unmöglich. Er bewies ihr mit einer Machtbezeugung, dass es das einfachste der Welt war. Eine zweizeilige Staatserklärung reichte: "Ich habe mich getrennt." Dieses Vorgehen spielte den Konservativen in die Hände und schockierte die Republikaner sowie das Ausland.

Undankbare Rolle

Latife sah Atatürk nach der Scheidung nie wieder. Ihr Leben war fortan eines im Schatten, fernab jeder Öffentlichkeit. Nichts über die Beziehung ließ sie nach außen dringen. Sie verfügte gar, dass selbst ihre Verwandten zweiter Generation nicht darüber sprechen durften. Über sie wurde jedoch gerichtet, in den Dokumentationen kam sie als herrschsüchtige Person schlecht weg, die ihre Stellung überschätzt hatte und Atatürk als das "Genie", das er war, nie genug gewürdigt hatte.

Buchempfehlung "Mrs. Atatürk"

Fünfzig Jahre Schweigen. Aber sie hatte nie vor, zu verschwinden, konstatiert die Politikwissenschafterin und Journalistin Ipek Calislar in ihrer Biografie über Latife Hanim, die nun auch in deutscher Übersetzung im Orlanda Verlag erschienen ist: Latife schrieb ihre Erinnerungen historisch genau und mit ausgezeichneter Quellenkundigkeit auf und verwahrte sie in einem Bankschließfach, auf dass man sie, wenn die Zeit gekommen war, lesen könnte.

Calislar bietet eine Innensicht einer Zeit des Umbruchs, zeichnet politische Entwicklungen aus den Augen Latifes nach, verschafft anhand von Zeitdokumenten wie Briefwechsel und Zeitungsberichten einen Überblick auf die Rezeption einer Frau, die lange vergessen und verdrängt war. Mit "Mrs. Atatürk" ist Latife Hanim, die 1975 verstarb, als politische Figur in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. (bto/dieStandard.at, 20.11.2008)