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Rote Lippen auf den Fernsehbildschirmen der Internationalen Funkausstellung in Berlin.

Foto: APA

Pro+++

"Du schaust aus wie eine Hure", zischte mein Onkel ärgerlich, als ich das erste Mal meine Lippen geschminkt hatte. Ich war dreizehn und hatte es wissen wollen, wie sich das anfühlt. So ein rot geschminkter Mund. Der Lippenstift war billig, weich und schmierig. Aber vor allem blutrot. Das Auftragen der Farbe war mir schwer gefallen, die Konturen verwischten, was mir das Aussehen eines Clowns verlieh. Aber dann, als es mir gelungen war, fühlte ich mich schön und auf eine unbestimmte Weise unnahbar. Beinahe mysteriös.

So wenig ich die Reaktion meines Onkels damals verstanden hatte und so irritiert ich verständlicherweise gewesen bin, bewirkt hat sie scheinbar schon etwas. Ich hatte gelernt, wie leicht es ist, in kürzester Zeit und ohne großen Aufwand eine Andere zu sein. Rollen zu mimen, mit verschiedenen Masken zu jonglieren, ganz wie es mir gefällt. Nur so. Zum Spaß.

Später habe ich bei Jacques Lacan über die Signalwirkung von roten Lippen gelesen und das hat mich in meinem Verständnis der Mehrdeutigkeit bestärkt. Ein roter Mund verkörpere Anziehung und Distanzierung gleichermaßen. Verlockung und Verführung versus Unerreichbarkeit. Also genau das, was ich als Dreizehnjährige empfunden hatte: "unnnahbar" zu sein. Und darum, frei nach Luce Irigaray: Lasst eure Lippen sprechen! Ganz wie und wann es euch gerade gefällt! (dabu)

---Contra

Früher war es eine einzige Schmierage. Bevor es die "hält 48 Stunden ohne zu verschmieren"- Lippenstifte gab, verfrachtete sich die Farbe von den Lippen direkt auf Kaffeetassen, Gläser, Zigarettenfilter, Wangen uns so weiter. In Filmen wird Lippenstiftfarbe nach wie vor als Spur gedeutet, die den eindeutigen Hinweis gibt: Da war eine Frau dran oder zumindest war eine anwesend. Die dort Vermutete ist dann meist auch, passend zum Rot, verrucht und bringt natürlich die sexuelle Komponente mit ins Spiel.

Die "Super-Stay" Produkte, die es auf dem Lippenstiftmarkt heute gibt, können auch nicht so richtig verlocken. Die Vorstellung, dass sich eine Farbe, die auf die Lippen (die auch lebenswichtige Nahrungsmittel passieren) aufgetragen wird, ewig und noch einen Tag hält, ist alles andere als verlockend.

Wenig motiviert ebenso die Erklärung eines Kulturanthropologen in einer Fernsehdokumentation zum Lippentuning: Rote Lippen würden laut dem Wissenschafter deshalb als attraktiv empfunden werden, weil sie an Schamlippen erinnern, die vor dem Orgasmus besonders rot werden und anschwellen. Aha.

Und außerdem, wo soll der Labello hin, wenn ihm der Lippenstift schon den Platz besetzt? (mag)