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Amalie Seidel organisierte den ersten Arbeiterinnenstreik in Wien.
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Sie stieß im Alter von 16 Jahren zur ArbeiterInnen-
Bewegung.
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"Damals, im Jahre 1892, als ich mit sechzehn Jahren in eine Appreturfabrik kam, war die Arbeitszeit von sechs Uhr früh bis sieben Uhr abends die Regel. Die Arbeiterinnen waren gar nicht organisiert und ließen sich mit Löhnen von 1 Kr. bis Kr. 1,50 abfertigen. Man kann sich vorstellen, auf welcher Höhe die Lebenshaltung der Arbeiterinnen stand. Im Jahre 1892 arbeitete ich in einer Fabrik, wo ungefähr 300 Arbeiter und Frauen beschäftigt waren, von denen die allermeisten nicht mehr als 7 Kr. verdienten. War doch eine der Forderungen, die bei dem folgenden Streik erhoben wurden, die Bezahlung eines Wochenlohnes von 8 Kr. ...

Tag der Arbeit durchgesetzt

Trotzdem von einer Organisation keine Rede war, gelang es mir doch, den Kolleginnen den Wert der Maifeier begreiflich zu machen und wir erlangten die Freigabe des 1. Mai. Natürlich war der Verlauf der Maifeier am anderen Tag der einzige Gesprächsstoff in der Fabrik und ich bemühte mich während der Jausenpause in einem großen Fabriksaal zu beweisen, dass bei entsprechender Organisation auch wir in der Fabrik unsere Verhältnisse verbessern könnten. Im Laufe der Rede ... bemerkten wir alle nicht, dass auch der Chef der Fabrik vielleicht schon einige Minuten zugehört hatte. Selbstverständlich folgte die Strafe, respektive die Entlassung", beschrieb Amalie Seidel in "Gedenkbuch. 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung" (hg. Adelheid Popp, Wien 1912), wie es zum ersten Arbeiterinnenstreik gekommen war.

Erfolgreicher "Streik der 700"

Als Amalie Seidel nach Hause kam, fand sie den Hof von der Polizei umstellt und eine Versammlung von Arbeiterinnen versicherte ihr, dass sie ihre Entlassung nicht hinnehmen wollten. Am nächsten Tag trugen die Arbeiterinnen der Fabriksleitung ihre Forderungen vor. Die Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf auf zehn Stunden sowie die Wiederaufnahme von Amalie Seidel wurden abgelehnt. Daraufhin verließen die Arbeiterinnen geschlossen die Fabrik. Am Nachmittag gab es eine Versammlung auf einer Wiese in Meidling. Nach einigen Tagen hatten sich dem Streik bereits 700 Frauen und Mädchen (aus insgesamt drei Fabriken) angeschlossen.

Der erste Frauenstreik erregte auch in der damaligen Presse ziemliches Aufsehen. Es galt als Skandal, dass nun auch die Arbeiterinnen "aufgehetzt" wurden. Erfolgreich, denn nach zweiwöchiger Streikdauer wurden die Forderungen angenommen: Zehnstündige Arbeitszeit, Bezahlung eines Minimallohnes von 8 Kr. wöchentlich, Freigabe des 1. Mai und die Wiedereinstellung von Amalie Seidel.

Engagement für die Unterdrückten

Amalie Seidel wurde 1876 in Wien als eines von sechzehn Kindern von Anna und Jakob Ryba, die aus Böhmen zugewandert waren, geboren. Der Vater, Schlosser und gewerkschaftlich organisierter Sozialdemokrat, versorgte seine Tochter mit politischer Lektüre und nahm sie zu Versammlungen mit. Nach der Grundschule arbeitete sie als Dienstmädchen, später als Hilfs- und Textilarbeiterin.

Mit sechzehn Jahren trat sie dem Arbeiterinnen-Bildungsverein bei und setzte 1893 den 1. Mai als arbeitsfreien Tag durch. Im gleichen Jahr wurde die Arbeiterin wegen "zu temperamentvoller Teilnahme an Wahlrechtskundgebung" zu drei Wochen Arrest und zum Abschub aus Wien verurteilt. 1894 folgten weitere drei Wochen Arrest.

1912 wurde sie Mitglied des sozialdemokratischen Frauenreichskomitees, 1919 Wiener Gemeinderätin, 1919 bis 1934 Nationalrätin, 1922-1931 stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums des Wiener Jugendhilfswerkes, Initiatorin der Kinderfreibäder, Vorstandsmitglied des Vereines "Freie Volksbühne", um nur einige ihrer Betätigungsfelder zu nennen.

Haft und Leiden im Faschismus

Im Faschismus war sie ebenfalls zweimal in Haft. Nachdem im Ständestaat die Sozialdemokratie verboten worden war, stellte Amalie Seidel ihre Wohnung für wöchentliche Treffen mehrerer weiblicher Abgeordneter zur Verfügung. Am 12. Februar 1934 wurde sie daraufhin in ihrer Wohnung verhaftet und blieb bis 30. März in Haft. Genauso war sie 1944 Monat lang in Gefangenschaft. Ihr erster Ehemann, mit dem sie zwei Töchter hatte, war im April 1934 in das Anhaltelager Wöllersdorf deportiert worden. Ihr zweiter Mann, der jüdische Wiener Gemeinderat Siegmund Rausnitz, den sie seit der Zeit im Verein "Freie Volksbühne" kannte, nahm sich 1942 gemeinsam mit seiner Schwester das Leben.

Amalie Seidel starb am 11. Mai 1952 in Wien. (dabu)