Foto: Verlag Kiepenheuer

Wie funktioniert eine Gesellschaft, in der Frauen die Regeln und Gesetze für die Gemeinschaft aufstellen und über das Vermögen der Sippe verfügen? Eine gesellschaftliche Ordnung, in der Frauen den Großteil der Arbeit, aber auch der Verantwortung tragen? Ein soziales Gefüge, in dem Frau und Mann nie als Paar zusammenleben, Liebesbeziehungen ohne Eifersucht und sozialem Druck auskommen, zur Familie nur jene zählen, die blutsverwandt sind und Vaterschaft ein unbekannter Begriff ist?

Der Journalist Ricardo Coler wollte mit eigenen Augen sehen, wie es in einem Matriarchat, das in der patriarchalen Welt nach wie vor als Mythos abgetan wird, zugeht. Zu diesem Zweck reiste er nach Luoshui im Süden Chinas und lebte dort monatelang bei den Mosuo, einer Gemeinschaft von 35.000 Menschen, die zu den letzten Matriarchaten der Welt zählt. Denn die wenigen noch existenten egalitären Gesellschaften rund um den Globus sind vom Aussterben bzw. vom Überherrschen / Kolonisieren patriarchaler Ordnungen bedroht.

Mosuo sollten patriarchal werden

Ein Schicksal, dem übrigens auch die Minderheit der Mosuo vor mittlerweile fünfzig Jahren gerade noch entkommen konnte. Mit dem Sieg der Revolution von Mao Tse-Tung am 1. Oktober 1949 sollte auch die matriarchale Gesellschaft der Mosuo angepasst werden. Besonders ihr freizügiges Liebesleben und die Nicht-Existenz von Vaterfiguren waren der neuen Regierung ein Dorn im Auge, denn Mao sollte ja "Vater" und Oberhaupt aller ChinesInnen sein; eine männliche Leitfigur in einem streng hierarchisch patriarchalem Staat.

1950 verurteilte die Regierung der Provinz Yunnan die Liebesbeziehungen der Mosuo als "primitive Praxis", die nach der neuen Ordnung der Volksrepublik China illegal war. Während der Agrarreform sechs Jahre später startete man einen ersten Anlauf, das Matriarchat auszurotten. "Wenn die Männer sich bereit erklärten, sich von ihren Müttern zu trennen und eine eigene Familie zu gründen, so wie es im übrigen Land Usus sei, würden sie das Besitzrecht an dem Land erhalten, das sie bebauten", schreibt Coler in seinem Bericht. Tatsächlich jedoch hätte es keinerlei Nachfrage nach Parzellen zu diesen Bedingungen gegeben. Der Versuch, die Männer dazu zu verführen, eine patriarchale Gesellschaft aufzubauen, ist fehl geschlagen.

So schnell gab die chinesische Regierung jedoch nicht auf. Bereits 1958 wurden die ersten Arbeitsbrigaden zu den Mosuo gesandt, um ein monogames sozialistisches System einzuführen. Doch auch diese groß angelegte Heiratskampagne scheiterte: die Matriarchinnen protestierten, sie wollten ihre Töchter nicht hergeben und auch diese selbst weigerten sich, zu einer anderen Familie, in ihren Augen zu "Fremden", zu ziehen.

Begriff Familie und Clan-System

Denn als "Familie" bezeichnen die Mosuo ausschließlich direkte Blutsverwandte, die auf demselben Grundstück leben. Die Matriarchin ist Oberhaupt des Clans und bei ihr leben ihre Kinder, ihre Mutter und ihre Geschwister beiderlei Geschlechts. Ferner gehören die Kinder der Schwester und die EnkelInnen dazu. Männer ohne direkte Blutsverwandtschaft bilden einen eigenen Clan mit ihren Müttern, Schwestern usw.

Aufgrund der sogenannten Besuchsehe, in der Männer lediglich über Nacht in den Clan kommen und früh morgens wieder abziehen müssen, sind Väter und Großväter in diesem System nicht vorgesehen. Vaterschaft hat lediglich sozial eine Bedeutung und wird zumeist von den Onkeln ausgeübt.

Ein Zusammenleben von nicht blutsverwandten Frauen und Männern im Sinne unserer patriarchalen Ehe wäre, so geht es aus den Interviews von Ricardo Coler hervor, für die Mosuo die schlimmste Strafe. Mit ihr droht die Matriarchin den Clanmitgliedern, wenn sie ihren Befehlen nicht gehorchen.

Revolution mit Gewaltstrategien

Mit der Kulturrevolution von 1966 erfolgte ein letzter Versuch, die Mosuo zur "Vernunft" zu bringen. Nun wurden Einheiten des Heeres zu ihnen geschickt, um die monogame Ehe mit Gewalt durchzusetzen. Die Gesandten legten fest, wer wen zu heiraten hatte. Wer sich nicht fügte, wurde ausgehungert, indem die ihr/ihm zustehende Ration Saatgut verweigert wurde. Dasselbe geschah mit unehelichen Kindern, also allen Kindern. "Das war paradox", schreibt Coler, "denn während man in ganz China versuchte, die arrangierten Ehen abzuschaffen, wurden die Mosuo unter Druck gesetzt, einer Familienform zu huldigen, die sie ablehnten".

Fassungslos ließen sich die Mosuo verheiraten, doch sobald Maos Delegierte abgezogen waren, kehrten sie zu ihrem früheren Leben zurück: die Frauen gingen wieder in ihren Mutter-Kinder-Clan und die Männer in den ihrigen.

Ricardo Coler lässt zu diesen Ereignissen einen Mann zu Wort kommen: "Sie bedrängten die Männer, die Finanzen in die Hand zu nehmen und über die Familie der Mutter ihrer Kinder zu bestimmen. Doch was hat ein Mann bei der Familie der Frau zu suchen, mit der er Kinder hat? Warum sollten sie über die Frau herrschen? Warum wollte man uns zwingen, mit einem Fremden, einem Nicht-Blutsverwandten unter einem Dach zu leben? Keiner von uns hat das je gewollt. Und will es bis heute nicht".

Männer profitieren vom Matriarchat

Auch aus den Interviews, die Ricardo Coler mit anderen Mosuo-Männern geführt hat, geht eindeutig und einheitlich hervor, dass sie sich kein anderes Gesellschaftssystem wünschen, sie sehr zufrieden sind, mit dem wie es ist. Ihr übereinstimmender Tenor: die Frauen sind besser im Organisieren als die Männer und so soll es darum auch bleiben. Immerhin profitiert der Mosuo von diesem System ja auch. Erstens wird der Großteil der Arbeit von den Frauen verrichtet und die Männer müssen sich nur um wenige Tätigkeiten kümmern, sind aber trotzdem bestens versorgt, haben alles, was sie brauchen. Und zweitens können sie einem freien Liebesleben ohne Verpflichtungen frönen. Ein beschauliches Leben, ohne große Anstrengung und Sorgen, mit viel Zeit, Genuss und Lust. Was will der Mann mehr?
(Dagmar Buchta/dieStandard.at, 03.12.2009)