Andreas Kemper, Heike Weinbach:
Klassismus. Eine Einführung.

UNRAST-Verlag, München 2009

ISBN: 978-3-89771-467-0
Ausstattung: br., 188 Seiten
Preis: 13.00 Euro

Foto: Unrast Verlag

Ist der Begriff "Klasse" nicht längst überholt? Sollten nicht Terminologien wie "Schicht" oder "Milieu" herangezogen werden, um soziale Herkünfte von Menschen zu differenzieren? Beide Überlegungen verneinen Andreas Kemper und Heike Weinbach und führen in ihrem hervorragenden Buch erstmalig im deutschsprachigen Raum in die Thematik Klassismus ein.

"classism"

Im deutschsprachigen Raum ist dieser Begriff relativ unbekannt und muss ─ so die AutorInnen ─ vom Klassenbegriff wie er in Anlehnung an Marx, Bourdieu oder Weber Verwendung findet, explizit abgegrenzt werden. Bei Klassismus handelt es sich um einen eigenen Klassenbegriff, der als "classism" im US-amerikanischen Kontext analog zu Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus etc. eine spezifische Diskriminierungs- und Unterdrückungsform bezeichnet.

So wird mit Analysen des Klassismus zwar der Status von Menschen im Produktionsprozess als Ausgangspunkt genommen, nicht aber die ökonomische Stellung im Produktionsprozess als einzige Differenzlinie herangezogen. Denn es geht, so Kemper und Weinbach, bei Klassismus immer auch um Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene, denen bestimmte Menschen ausgesetzt sind. Klassismus beschreibt demnach eine "(...) Idee von Klasse" und damit Menschen, "(...) die ökonomisch und kulturell in der Gesellschaft verortet sind bzw. werden und daraus resultierende Diskriminierungs- und Unterdrückungserfahrungen machen." (S. 13)

Klassenzuschreibungen im Blick

In Abgrenzung zu starren Definitionen (wie "Unter-, Mittel-, Oberschicht" oder "Middle Class", "Working Class" etc.) geht es darum, Phänomene des Klassismus zu beschreiben und zu analysieren und vor allem, neue Sichtweisen zu etablieren. Ein zentraler Begriff im Kontext von Klassismus ist, so die AutorInnen, Ausbeutung. Phänomene des Klassismus als Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen zeigen sich, wenn Menschen Ausbeutung erfahren, keine partizipative Anerkennung im Sinne der Teilhabemöglichkeit an gesellschaftlichen Ressourcen (ökonomische, kulturelle, institutionelle etc.) haben und so ein System der sozialen Ungleichheit produziert und aufrecht erhalten wird: ArbeiterInnen, Arme, Arbeitslose, Illegalisierte u.v.m. sind davon betroffen. 

Schuldprojektionen

Klassismus geht einher mit der Herabsetzung von Menschen bzw. Gruppen (z.B. mit der postulierten "Kulturlosigkeit der ArbeiterInnen"), basiert auf Hierarchisierungen (z.B. oben und unten in den Begriffen "Ober"schicht, "Unter"schicht) und begründet sich auf Stereotypen (z.B. ALG II-Beziehende oder Obdachlose seien "faul", "ungebildet", "zu bequem"). "Stereotype dienen auch dazu, reale Verhältnisse so darzustellen, als seien immer diejenigen Schuld, die in diesen Verhältnissen leben" (S. 66), pointieren die AutorInnen und zeigen damit die Verkehrung der Realität, der jene Menschen ausgesetzt sind, die im Prozess des Othering als die negativ konnotierten Anderen konstruiert werden und denen die Schuld dessen zugewiesen wird, was auf sie (kollektiv) projiziert wird. Verfestigt wird damit u.a. Ausbeutung und soziale Ungleichheit.

Intersektionalität

In der Beschreibung von Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen als Klassismus betonen Kemper und Weinbach immer wieder die strukturelle Dimension und den intersektionalen Zusammenhang insofern die jeweiligen Ausgrenzungserfahrungen unterschiedlich sind, sich aber stets auch mit anderen Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen überschneiden. Die AutorInnen stellen damit Klassismus explizit in das Projekt von Social Justice (siehe Leah Carola Czollek/Heike Weinbach, Lernen in der Begegnung: Theorie und Praxis von Social Justice-Trainings. Hg. IDA e.V. Bonn 2008) und grenzen sich ab von Additionstheorien und -haltungen, die auf hierarchisch-bewertende Einteilungen von Diskriminierungen basieren.

Das Buch von Andreas Kemper und Heike Weinbach enthält in seiner kritischen Diskussion viele Facetten: Es beinhaltet die Geschichte und US-amerikanische Theorien des Klassismusbegriffes, zeigt feministische Bezüge, diskutiert historische Widerstandskulturen und Klassismus im deutschsprachigen Raum (BRD, DDR) ebenso wie Klassismus im Kontext von Psychologie und Psychotherapie oder im Kontext von Feldern wie Bildung, Arbeit, ArbeiterInnensexualität, Familien- und Beziehungsstrukturen sowie Wohnverhältnisse. Während manche Themenbereiche sehr ausführlich diskutiert werden, sind andere weniger detailliert. Doch korrespondiert das einerseits mit der in der Einleitung formulierten Haltung der AutorInnen, das Buch als sporadische Einführung und zugleich als Anregung für weitere Forschungen zu verstehen, die bei der Thematik Klassismus im deutschsprachigen Raum noch vehemente Lücken aufweist.

Andererseits legt die Lektüre dieser Publikation die Auffassung nahe, dass mit der Intention, auf Klassismus als Unterdrückungs- und Diskriminierungsform auch im deutschsprachigen Raum aufmerksam machen zu wollen, die Absicht verbunden ist, eine grundlegende Sichtweise auf Diskriminierung und Unterdrückung im Zeichen von Social Justice zu vermitteln. Damit eng verbunden ist, über Beschreibungen und Analysen des Klassismus hinausgehend, Widerstandskulturen, Erfindungen und Praxen neuer Kulturen (z.B. der ArbeiterInnenkulturen) aufzuzeigen und damit auch zu Recht Abstand von der Haltung zu nehmen, Menschen müssten von ihrer vermeintlichen "Unkultur" hin zur angeblich richtigen "bürgerlichen Mainstreamkultur" gebildet werden. Bei der Thematisierung der ArbeiterInnenkultur bleibt zuweilen unklar, wo die Differenzierungslinien gezogen werden: so ist etwa im Kapitel über "ArbeiterInnenkultur und Nationalsozialismus" nicht von allen ArbeiterInnen die Rede, sondern von der "linkspolitischen organisierten ArbeiterInnenbewegung", bei der die "(...) NationalsoziaIistInnen (...) kaum Zustimmung finden (konnten)" (S. 72).

Kein Bedarf an "bürgerlicher Leitkultur"

Im Zentrum des Buches steht auch, neue Sichtweisen zu etablieren. Die AutorInnen verhehlen dabei ihre Haltung nicht: Es bedarf keiner "bürgerlichen Leitkultur", es bedarf einer "Kultur der Anerkennungsdissidenz" und der "Anerkennungssubsistenz", eines "Schreibens der Geschichte von unten", des Anknüpfens an "selbstorganisierten Formen des Lernens", es bedarf "autonomer Zusammenschlüsse" und zugleich einer "Sensibilisierung der Politik, Kultur und Wissenschaft" für Klassismus und seinen Folgen (S. 174f.), um die Klassenlosigkeit einer Gesellschaft zu etablieren. 

ArbeiterInnentöchter

Diese kritische Haltung zieht sich durch das Buch und ihr nahezu immanent ist das Dilemma der (Nicht)Benennung im dialektischen Verhältnis von Positionierung und Depositionierung: So lässt die Positionierung z.B. von bell hooks oder Rita Mae Brown als "Arbeiterinnentöchter" die Vermutung zu, im Kontext von Klassismus adäquater sprechen zu dürfen, mehr gehört zu werden, und würde so gegen das ─ dem Projekt Social Justice inne liegende ─ Konzept des Verbündet-Seins sprechen, das allen Menschen gleichermaßen das Recht zuspricht, gegen oder für eine Sache zu sprechen und zu handeln; gleichzeitig legt jene Positionierung nahe, dass gerade jene sichtbar gemacht werden sollen, die aufgrund von Klassismus kaum oder nicht sichtbar sind (z.B. ArbeiterInnenkinder im akademischen Diskurs). Diesem Dilemma zu entgehen, ist schwer möglich. Doch geht es Andreas Kemper und Heike Weinbach nicht um die "(...) Abwertung von Menschen anderer Klassen und deren Geschichte, sondern um "einen respektvollen Umgang bei gleichzeitiger Thematisierung von strukturellen Ausgrenzungszusammenhängen." (S. 175) Für eine Antiklassismusbewegung bedarf es demzufolge, so Andreas Kemper und Heike Weinbach, der "Solidarisierung von Verbündeten" (S. 174), die aus allen gegenwärtig bestehenden Klassen kommen.

Die vorliegende Publikation ist sehr empfehlenswert für all jene, die ein Verständnis für Klassismus entwickeln wollen und für jene, deren Anliegen darin besteht, Wege gegen Diskriminierung und Unterdrückung zugunsten von Social Justice als Umverteilungsgerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit, also der Partizipationsmöglichkeit aller Menschen an allen gesellschaftlichen Ressourcen, zu finden. (Gudrun Perko, dieStandard.at, 29.1.2010)