Ist die Websociety progressiver als die reale Gesellschaft - oder nur eine Abbild derselben? Auch wenn diese Frage bei der diesjährigen re:publica, der größten selbstorganisierten Bloggerkonferenz im deutschsprachigen Raum, nicht explizit gestellt wurde, so stand sie doch bei zahlreichen Veranstaltungen und Diskussionen im Raum. Das Verhältnis von realer Welt und Netzgesellschaft kam vor allem auch bei geschlechterpolitischen Themen zur Sprache: Zum einen belief sich der Frauenanteil an Speakern, also an Vortragenden bei dem dreitägigen Spektakel auf nur 21 Prozent. Zum anderen waren Ziele und Probleme von Feministinnen im Netz Thema auf zwei Panels. Die US-amerikanische Bloggerin Melissa Gira Grant wagte zudem einen Blick auf "Sex im Internet".
Netzteilhabe
Der sexistische Filter liegt in der Blogosphäre ausnahmsweise nicht in der Quantität, also dem Einwand, dass es einfach nicht genug Frauen gäbe, die sich des Mediums bedienen. Mehrere Studien für den deutschen wie auch den US-amerikanischen Raum haben gezeigt, dass gut zwei Drittel aller BloggerInnen weiblich sind. Darüber hinaus ist bekannt, dass zwei Drittel der Blogs wie Online-Tagebücher betrieben werden, in denen Menschen ihre Gedanken und Hobbies mit dem FreundInnenkreis austauschen. Nur etwa ein Drittel versteht sich als quasi "professionelles Weblog" mit thematischem Sendungsbewusstsein.
Bei re:publica kritisierten feministische Rednerinnen, dass ein Ausschluss von "weiblichen Themen" auf der Konferenz stattfinden würde. Immerhin gäbe es neben feministischen Blogs auch zahlreiche Strick- oder auch Hausarbeitsblogs, die von Frauen betrieben würden, wie Helga Hansen, Autorin beim Gruppenblog Mädchenmannschaft auf dem Podium betonte. Warum die re:publica sich nach wie vor hauptsächlich auf technische, mediale und netzkulturelle Themen wie Zensur und Datenschutz beziehe und soziale, politische und alltagsweltlich ausgerichtete Fragen ausblende, verstand auch die Bloggerin Anna Berg, ebenfalls von Mädchenmannschaft, nicht.
Surfen im "post-gender"-Raum?
Das Phänomen "Alpha-Blogger" wurde auf dem Panel "Das andere Geschlecht. Sexismus im Internet" dann noch einmal genauer unter die Lupe genommen. Moderatorin Anne Roth, selbst Betreiberin des Datenschutz-Blogs annalist, warf ein, dass sich in den deutschen Blogcharts die erste bloggende Frau auf Platz 35 befindet und wollte wissen, ob dies ein Zeichen von Netz-Sexismus sei. Für Anna Berg von Mädchenmannschaft ein klares Indiz dafür, dass "im Netz nicht alle gleich sind. Wir sind eben nicht 'post-gender', wie es manche Vertreter der Piraten-Partei gern behaupten, um sich selbst nicht der Gender-Diskussion in den eigenen Reihen stellen zu müssen." Alle, die in den vergangenen Jahren gehofft hatten, dass mit dem allmählichen Verschwinden des Begriffs "post-feministisch" auch Diskussionen über die angebliche Irrelevanz von feministischem Engagement innerhalb eines gleichheitsorientierten Grundkonsenses passé wären, wurden also eines besseren belehrt. Jetzt gibt es den Kampbegriff "post-gender".
Der Kulturwissenschafter Klaus Schönberger stellte wiederum die Relevanz jener Blogger-Listen in Frage, die sich aus Zugriffszahlen und Verlinkungen ergeben. "Was haben eingehende Links mit der Qualität von Blogs zu tun? Mir sagen die Themen und die Leute, die diese angeblich so relevanten Blogs betreiben, gar nichts". Zeitgleich zum Panel über Sexismus im Internet bot der Live-Chat, der zu sämtlichen Veranstaltungen auf der Website angeboten wurde, ein treffendes Beispiel dafür, wie sich Sexismus im Netz abspielt (nachzulesen etwa beim Piratenweib): als enervierendes, beständiges Hintergrundrauschen.
Aufgrund der permanenten Untergriffe und Anfeindungen in Blogs, Online-Foren und Chatrooms kritisieren Feministinnen deshalb auch die Impressumspflicht für Blogs in Deutschland, die es BetreiberInnen auferlegt, sich mit Adresse und Telefonnummer (Mobilnummern sind nicht erlaubt) im Netz zu offenbaren (mehr dazu im Blog von Karnele).
Sex-Update fürs Internet
Nur einen -ismus entfernt lag das Thema "Sex im Internet". Die feministische Bloggerin, Autorin und Ex-Sex-Arbeiterin Melissa Gira Grant reiste aus New York City augerechnet mit einem I-Pad an, um dem üblichen Bild des Internets als einzige große Rotlichtmeile ein offeneres, emanzipatorisches entgegenzusetzen. Als Medium, in dem menschliche Erfahrungen geteilt würden, zu denen auch sexuelle gehören, beschrieb sie ganz allgemein die neuen Möglichkeiten der Massenkommunikation im Internet. Ihre Kritik schien sehr stark von den Verhältnissen in den USA geprägt, wo von liberaler Seite oft beklagt wird, dass eine rigide sexuelle Doppelmoral das Sprechen über sexuelles Begehren verunmögliche.
Grant beanstandete in ihrem Vortrag die unreflektierte Panikmache in den bürgerlichen Medien gegenüber Jugend-Phänomenen wie "sexting", also dem Verbreiten von selbstgemachten Nacktaufnahmen via MMS. "Meist fehlt solchen Beiträgen über die sexuelle Verrohung bei Jugendlichen die genaue Recherche bei SexualtherapeutInnen, die wirklich mit Jugendlichen arbeiten." In ihrem Vortrag stellte sie mehrere Initiativen im Netz vor, die sich in ihren Augen besonders vorbildlich mit Sexualität auseinandersetzen, etwa die sexualpädagogische Jugendseite www.scarleteen.com, oder die Sex-Ratgeberseite about.sexuality.com (im Besitz der New York Times Company). Auf dem Blog Where is your line? können Menschen sich zu so komplizierten und persönlichen Themen wie Sexualität und Einverständnis austauschen. Zuletzt stellte sie auch ihr eigenes Buchprojekt "coming & crying" vor, in dem Frauen natürlich höchstpersönlich und "real" von ihren Sexerlebnissen berichten. Die Suche nach der Wahrheit der Sexualität steht offenbar weiterhin hoch im Kurs.
Frauen die Angst zu nehmen, sich im Netz zu zeigen und selbstbewusst zu agieren, war wohl das Ansinnen der Sex-Aktivistin, doch das absichtliche Ausklammern von Plattformen wie youporn.com o.ä. machte ihre Vorschläge nicht unbedingt konsistenter. Zuguterletzt wagte Grant dann noch einen Einstieg in die Live-Chat-Plattform Chat-Roulette, gemeinhin ein Synonym für die Versexung und Dumpfheit im Mainstream-Netz: Von den etwa 10 Zufallschatpartnern war keine einzige Frau dabei und zwei hatten ihre Webcam direkt auf ihren Schniedel gerichtet. Grants Resumée: "Jetzt werden die Journalisten wieder schreiben: 'Lauter Perverse und keine Frauen im Netz'." Zweifelhaft, ob der Kampf um den Ruf des Internets ausgerechnet über Foren wie "Chatroulette" geführt werden sollte. (Ina Freudenschuß, diestandard.at, 18. April 2010)