Susan Sontag, "Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963"

Deutsch von Kathrin Razum. € 24,90 / 300 Seiten, Hanser, München 2010

Foto: Hanser

Die lesbischen Beziehungen der 2004 verstorbenen US- Kritikerin und Essayistin Susan Sontag waren wie ein öffentliches Geheimnis, aber eines, das sie zeitlebens vor neugierigen Blicken zu schützen wusste. Die Veröffentlichung ihrer frühen Notizbücher erlaubt nun Einblicke in Sontags Privat- und Intimleben - mehr als mancher Leser vielleicht haben wollte. "Wiedergeboren" als erster von drei geplanten Bänden umfasst die Jahre 1947 bis 1963. Leicht will es sich der Herausgeber, Sontags Sohn David Rieff, mit der Publikation nicht gemacht haben. "Du weißt, wo die Tagebücher sind" : Dieser vieldeutige Satz, schreibt Rieff eingangs, sei das Einzige gewesen, was seine im Sterben liegende Mutter ihm zu ihren im Kleiderschrank versteckten Notizbüchern gesagt habe.

Skrupel des Lesers sollten sich spätestens dann verflüchtigen, wenn er erfährt, wie bedenkenlos Sontag in den Tagebüchern ihrer Liebhaberinnen spionierte - und hinterher meist über die darin gefundenen ungeschminkten Wahrheiten über ihre Beziehungen am Boden zerstört war. Es sei eine der wichtigsten sozialen Funktionen von Journalen, notierte sie 1957 grimmig, "heimlich von anderen Leuten gelesen zu werden" .

Für die junge Susan Sontag waren ihre Notizbücher "ein Vehikel für mein Ichgefühl" , ein unentbehrlicher Ort der Selbstvergewisserung und -erschaffung. "Von jetzt an werde ich jeden Blödsinn, der mir durch den Kopf geht, aufschreiben" , heißt es einmal. Als Leser muss man sagen: Sontags Tagebücher sind vor allem eine Ansammlung von Listen: von gelesenen oder zu lesenden Büchern ("Befehl: Gides ‚Neue Früchte der Erde‘ lesen" ). Von Filmen und Theaterstücken. Von Wörtern aus Kulturzeitschriften oder der Schwulenszene ("go commercial: es für Geld machen" ). Von Kindheitserinnerungen (20 Seiten lang). Nicht zuletzt: von Fehlern ("Faulheit" ) und Selbstermahnungen ("täglich baden" ). Sontags legendäres Selbstbewusstsein, ihr Wille zur Intellektualität, mit dem sie zur bedeutendsten Essayistin Amerikas wurde, waren, wie ihre Einträge zeigen, nur die Kehrseite einer tiefen Verunsicherung, nicht zuletzt über ihre sexuelle Identität.

Ihre ersten lesbischen Erfahrungen feierte die junge Studentin als "Wiedergeburt" : "Ich weiß jetzt etwas mehr darüber, was in mir steckt" , notiert sie im Mai 1949 euphorisch. "Ich will mit vielen Leuten schlafen - ich will leben und ich will nicht sterben müssen" . Zugleich sind diese Erfahrungen von Beginn an mit Erlebnissen der Demütigung verbunden. Ein Jahr später heiratete Sontag in Chicago ihren Dozenten Philip Rieff, den sie erst Tage vorher kennengelernt hatte: "im vollen + beklemmenden Bewusstsein meines Drangs zur Selbstzerstörung" .

Sontags eigentliche Wiedergeburt findet erst 1957 statt, als sie für Monate ohne Mann und Kind in Europa lebt. In der Pariser Boheme beginnt erst wieder ihre Beziehung mit Harriet, später lebt sie mit Harriets Exgeliebter Irene zusammen. Ein von Sadomasochismus geprägtes Beziehungskarussell: mit knallenden Türen, verweigertem Sex, Eifersucht und Blutergüssen im Gesicht.

Zurück in New York, beginnt 1959 der Kampf um das Sorgerecht für David, bei dem der verletzte Ehemann Sontag outet. "Mein Bedürfnis zu schreiben" , heißt es im Dezember 1959, "hängt mit meiner Homosexualität zusammen. Ich brauche diese Identität als Waffe, als Gegenstück zu der Waffe, die die Gesellschaft gegen mich einsetzt." (Oliver Pfohlmann / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.4./1.5./2.5.2010)