Gabriele Dietze: "Die 'Grande Nation' verhält sich nicht viel anders als der imaginierte muslimische Patriarch: Beide machen Frauen zum Symbol ihres kulturellen Selbstverständnisses."

Foto: Gabriele Dietze

Nach Belgien hat vergangene Woche auch Frankreich ein Verbot der Vollverschleierung beschlossen. Das neue Gesetz verbietet die "Gesichtsverschleierung" nicht nur in öffentlichen Gebäuden, sondern auch auf der Straße. Bei Zuwiderhandeln droht Trägerinnen von Nikab, Burka oder Tschador eine Strafe von 150 Euro oder ein so genannter "Bürgerkurs". 

Die Kulturwissenschafterin und Amerikanistin Gabriele Dietze beschäftigte sich in dem von ihr herausgegebenen Buch "Kritik des Okzidentalismus" unter anderem mit Islamophobie und dem "orientalischen" Anderen, das von Diezte als Instrument nationalistischer Identitätsbildung thematisiert wird. Im E-Mail-Interview mit Beate Hausbichler spricht sie über das Burka-Verbot und die "Peinlichkeit seiner Durchsetzung", über Zwangsemanzipation und schwesterliche Solidarität.

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dieStandard.at: Seit Monaten gibt es in Europa eine rege Debatte um die Vollverschleierung. In Frankreich stimmte in der Nationalversammlung eine Mehrheit für das Verbot, das 0,05 Prozent der Bevölkerung betrifft. Wie erklären Sie sich die Einigkeit bei diesem Thema?

Gabriele Dietze: Ich möchte umgekehrt antworten: die Einigkeit ist nicht da, sondern sie wird über islamophobe oder antimuslimische Gesetzgebung wie das Burka-Verbot hergestellt. Frankreich als krisengebeutelte und zerrissene Gesellschaft vergewissert sich seines abendländischen Führungsanspruchs - verkörpert in einem säkularen Universalismus - über die (zu rettende) Figur der durch ein 'orientalisches Patriarchat' unterdrückten Frau. Dabei verhält sich die 'Grande Nation' nicht viel anders als der imaginierte muslimische Patriarch: Beide machen Frauen zum Symbol ihres kulturellen Selbstverständnisses.

dieStandard.at: Zwischen Feministinnen und rechter Politik bilden sich auch zunehmend Koalitionen. Die prominente Feministin Julia Onken hat sich etwa für das Minarett-Verbot in der Schweiz ausgesprochen. Nur konsequent, wenn frau sich für universelle Frauenrechte stark machen will?

Dietze: Konsequent schon, aber im Kern unfeministisch. Zwangsemanzipation (über staatliche Disziplinierung) unterscheidet sich im Kern nicht von kolonialer Zwangsmissionierung. Schwesterliche Solidarität mit genötigten und misshandelten Frauen - gleichgültig aus welchen Kulturkreisen - sollte unbedingt von institutionellem Rassismus und Sexismus (d.h. von fremden- und frauenfeindlicher Politiken jeder Couleur und Migrationsregimen) entkoppelt werden. Zudem finde ich es befremdlich, sich der phallischen Konkurrenz um höhere Türme anzuschließen, es sei denn, ein so verstandener feministischer Universalismus setzt sich auch für die Kürzung von Kirchtürmen und für das Verbot von frauenfeindlichem Zölibat und Priesterprivileg ein.

dieStandard.at: Einer Umfrage zufolge spricht sich die Mehrheit der EuropäerInnen für ein Burka-Verbot aus (dieStandard.at berichtete: Europa gegen die Burka), in den USA sind es nur 28 Prozent. Warum dieser Unterschied?

Dietze: Die europäischen bürgerlichen Revolutionen, besonders die französische, haben sich über eine als 'unheilig' verstandene Allianz von Adel und Kirche erhoben. Religiöse Einmischung in das zivile Leben gelten vielfach als rückständig und als Indiz für Unfreiheit. Die USA dagegen war von Beginn an ein Flucht- und Einwanderungsland für religiös verfolgte ChristInnen und JüdInnen. Das Recht auf öffentlich sichtbare Religionsausübung steht dort in der Tradition von Freiheitsrechten.

dieStandard.at: Wie schätzen Sie die Rolle der Medien für die Diskussion um die Vollverschleierung und um das Kopftuch ein?

Dietze: Die Debatte um die Vollverschleierung hat medial einen pornographischen Effekt, weil die Entschleierung auch gleichzeitig als Entkleidung/Entblößung (einer besonders schamvollen) Frau gesehen werden kann. Hier ist die Polemik hauptsächlich gegen den muslimischen Mann gerichtet, da aus okzidentaler Perspektive eine freiwillige Verschleierung nicht vorstellbar ist. Beim Kopftuch ist die mediale Behandlung komplizierter und gespaltener. Studien haben ergeben, dass viele junge Frauen das Kopftuch aus eigenem Antrieb tragen, einige sogar gegen den Wunsch ihrer Eltern und damit auch implizit Kritik gegen Freizügigkeit und Sexualisierung in den okzidentalen Medien und im öffentlichen Raum verkörpern.

dieStandard.at: Bei der Kopftuchdebatte sprechen sich Musliminnen selbst für das Kopftuch aus und betonen die Freiwilligkeit ihrer Handlung. In Sachen Burka-Verbot sprechen die Trägerinnen nicht für sich selbst, was bedeutet das für die Diskussion?

Dietze: Selbst wenn man weitgehend von der Unfreiwilligkeit des Burkatragens ausgeht (in Frankreich handelt es sich optimistisch geschätzt um zwei- bis dreitausend Trägerinnen), sprechen mindestens zwei Gründe gegen eine staatliche Entschleierung: Zum einen schier unüberwindliche Hürden bei der Durchsetzung des Verbotes (es bedürfte eines Corps weiblicher Polizisten, den schamhaft sich wehrenden Frauen die Bedeckung zu entwinden, oder sie andernfalls in Beugehaft umzuerziehen). Zum anderen ist die Frage des Doppelstandards wichtig. Es verträgt sich nicht mit einem universalistischen Rechtsverständnis, Sondergesetze für Bevölkerungsgruppen zu machen. Der Gesetzgeber nimmt sich ja auch nicht heraus, kontemplative Nonnen in die Welt zu befreien oder Internate für Sportgymnastinnen zur Vermeidung von Anorexie und Übertraining von vorpubertären Mädchen zu schließen.

dieStandard.at: Oftmals wird kritisiert, dass es sich bei den Musliminnen, die sich etwa für das Recht auf das Kopftuch in öffentlichen Ämtern einsetzen, meist um sehr gut ausgebildete Frauen oder Konvertitinnen handelt, die Migrantinnen nur begrenzt repräsentieren können. Was meinen Sie dazu?

Dietze: Grundsätzlich unterscheiden sich Musliminnen nicht von christlichen und agnotischen österreichischen und deutschen Mitbürgerinnen. Besser ausgebildete Frauen höherer Klassen ergreifen nicht nur häufiger das Wort, sondern werden auch mehr gehört. Und auch bei Abstammungsösterreicherinnen und -deutschen können wir davon ausgehen, dass weniger gebildete Frauen leichter Opfer patriarchalischer oder sexistischer Gewalt werden. Im Unterschied zu den muslimischen Migrantinnen kommt aber niemand darauf, Unterdrückung von weniger gebildeten Frauen 'typisch' für abendländische Gesellschaften zu halten.

dieStandard.at: In der von Ihnen herausgegebenen Publikation "Kritik des Okzidentalismus" sprechen Sie von "Neo-Musliminnen", wer ist damit gemeint und was bedeutet Okzidentalismus?

Dietze: 'Neo-Muslima' ist eine Bezeichnung, die in der BRD kursiert, und den besonderen Typus der gut ausgebildeten und öffentlich sprechenden Frau, die sich zwischen oder eher jenseits von mehreren Normgefügen sieht: Einerseits bekämpft sie einen engen Traditionalismus älterer Einwanderergenerationen, der sie einsperrt und der Stimme beraubt, und andererseits verwahrt sie sich gegen kulturelle Kolonialisierung und paternalistische/maternalistische Herablassung ob ihrer angeblichen Unaufgeklärtheit durch die abstammungsdeutsche Gesellschaft. Ihre besondere Kritik gilt der Verwechslung von erotisierter Selbstdarstellung und sexueller Freizügigkeit mit Emanzipation und persönlicher Freiheit. Mit Okzidentalismus meine ich eine abendländische Ideologie, die sich ihrer Überlegenheit über die Stigmatisierung, und im weitesten Sinne auch über die Erfindung, eines rückständigen 'orientalischen Anderen' versichert. Frauen werden in diesem Zusammenhang zu 'Grenzobjekten', an denen die Fortschrittlichkeit des Abendlandes bewiesen wird. Der Kampf um Kopftuch und Schleier ist insofern kein altruistischer Versuch, unterdrückte Frauen zu retten, sondern ein Kampf um Leitkultur.

dieStandard.at: Frankreich ist nach Belgien das zweite europäische Land, in dem ein Verschleierungsverbot in der Öffentlichkeit beschlossen wurde, wie schätzen Sie die künftige Entwicklung in dieser Frage ein?

Diezte: Ich hoffe sehr, dass die Debatte um das Burka-Verbot und die noch gar nicht abzusehende Unmöglichkeit und Peinlichkeit seiner Durchsetzung andere europäische Länder von der erneuten (und verschärften) Stigmatisierung muslimischer MigrantInnen als Gesellschaftsfeinde abbringt. Hier können natürlich nachdenkliche Medien eine gute Rolle spielen. An Belgien kann man übrigens gut sehen, dass eine Gesellschaft in der Krise (Sprachstreit, mögliche Sezession) versucht, sich über ein äußeres Feindbild zu einigen und gemeinsame Identität zu schaffen. Insofern sind besonders innerlich stark polarisierte Nationen in Gefahr, sich dieser paranoischen Gesetzgebung anzuschließen. (Die Fragen stellte Beate Hausbichler, dieStandard.at, 22.7.2010)