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Ein durchschnittliches Körpergewicht und ein "normales" Essverhalten sind in der Überflussgesellschaft kaum mehr anzutreffen.

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Plakat zum internationalen Kongress über Gewicht und Körperbilder zwischen Gesundheit, Gesellschaftspolitik und Wirtschaftsinteressen.

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Sonja Wehseley, Stadträtin für Gesundheit und Soziales, und Beate Wimmer-Puchinger, Frauengesundheitsbeauftragte der Stadt Wien

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Magersucht auf der einen Seite, Esssucht auf der anderen. Ein "normales" Essverhalten und ein durchschnittliches, als "gesund" eingestuftes Gewicht kommen in weiten Teilen der Welt immer seltener vor. Während Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und Binge Eating Disorder (BED) bekannterweise in den vergangenen drei Jahrzehnten angestiegen sind, leiden am anderen Ende der Skala immer mehr Menschen unter Übergewicht und Adipositas. Beim internationalen Kongress "Der Kampf ums Gewicht", der am 28. September im Wiener Rathaus über die Bühne gegangen ist, erörterten ExpertInnen verschiedener Disziplinen dieses gesellschaftliche Problem. Das Ziel soll ein "gesundes Gewichtsverständnis" sein.

Zwei Seiten einer Medaille

Die Zahlen sprechen für sich: Laut Adipositas-Bericht gelten hierzulande nur knapp 42 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Männer als "normalgewichtig". Und auch bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sei der Anteil der Übergewichtigen in den vergangenen vier Jahren um 20 Prozent gestiegen. Doch der Grat, auf dem sich das Gesundheitssystem bewegt, ist schmal, gab die Wiener Gesundheits- und Sozialstadträtin Sonja Wehsely zu bedenken. Denn obwohl unbestritten sei, dass "massives Übergewicht das Risiko für zahlreiche Erkrankungen erhöht und damit auch eine gesundheitsökonomische Belastung darstellt", könnten Ernährungs- und Gewichtsempfehlungen zu einer "übermäßigen Beschäftigung mit dem Gewicht und zu einem verkrampften und gesundheitsschädigenden Verhältnis zum eigenen Körper führen". Somit steige auch die Zahl derer, die sich für ein vermeintlich gesundes Gewicht krank hungern. Derzeit leiden bereits alleine in Österreich geschätzte 200.000 Menschen, vorwiegend Mädchen und Frauen, an Essstörungen.

Wirtschaftliche Profiteure

Um das Problem in den Griff zu bekommen, gehe es in erster Linie um Aufklärung, waren sich Sonja Wehsely und Beate Wimmer-Puchinger, Wiener Frauengesundheitsbeauftragte, einig. Vor allem der medial vermittelten Verunsicherung von Frauen und Mädchen müsse entgegengewirkt und ihr Selbstbewusstsein gestärkt werden. "Der zunehmende Trend zur Diskriminierung von Menschen, deren Körperformen nicht dem herkömmlichen Schlankheitsideal entsprechen", sei vehement abzulehnen, so Wehsely. Zusätzlich soll darauf hingewiesen werden, dass eine Reihe von Industriezweigen von den Gewichtssorgen enorm profitieren, meinte Wimmer-Puchinger. Ständig werden neue Angebote zur Gewichtsreduktion und Körperveränderung geschaffen, und auch die Schönheitschirurgie profitiert. Mittlerweile legen sich in Österreich jährlich 50.000 Frauen unter das Messer. Und Fettabsaugungen stehen an der Spitze der so genannten Schönheitsoperationen.

Zahlen und Fakten zum Körperbild

Seit 1900 präge das Bild vom schlanken Körper die Covers verschiedenster Zeitschriften, begann Michaela Langer, stellvertretende Leiterin des Wiener Programms für Frauengesundheit ihren Vortag über "(Alp)Traumkörper". Noch heute gelte Völlerei als Todsünde. Der Glaubenssatz "schlank=erfolgreich=gesund=schön=gut" werde über viele Kanäle vermittelt, präge unsere sozialen Normen und sei Teil unserer Identität. Nicht nur, dass jede Abweichung davon mit Schuld- und Schamgefühlen verbunden sei, selbst Normalgewichtige würden sich aufgrund dieser Propaganda als zu dick empfinden. Eine Taille von 60 Zentimetern entspreche der Kindergröße 134, also Achtjährigen und würde lediglich von 0,06 Prozent der Frauen erreicht.

Folgen: Gewichtskontrolle und Essstörungen

Auffällig sei auch, dass die umstrittenen Empfehlungen zum Body-Mass-Index als Maß für gesundes Gewicht (18,5 bis 25) und ungesundes Übergewicht (über 25) in den vergangenen Jahrzehnten nach unten korrigiert worden seien. Als erstrebenswert und ästhetisch wird jedoch ein BMI unter 20 vermittelt, wie anhand von Models anschaulich wird. Diese Kluft zwischen Idealkörper und objektivem Körper bewirke ein schwindendes Selbstwertgefühl. Laut einer Umfrage sind bereits Sechsjährige mit ihrem Körper unzufrieden, so Langer: "32 Prozent der Normalgewichtigen wären lieber dünner und 44 Prozent der Mädchen beurteilten sich als übergewichtig, obwohl sie einen BMI unter 25 hatten". Die Folgen sind Gewichtskontrolle und Essstörungen. In Europa seien 22 Prozent der Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren in irgendeiner Form essgestört, in Deutschland bereits jedes fünfte Kind, erläuterte Wimmer-Puchinger.

Doch was tun? In den Medien sollen vielfältige Körperbilder und keinesfalls digital bearbeitete Bilder gezeigt werden, fordert Michaela Langer. Im Sozialen sei von Diätempfehlungen, Verspottungen und Stigmatisierungen übergewichtiger Menschen abzugehen und die Wirtschaft müsse zur Verantwortung gezogen werden.

Ist "dick" gleich ungesund und krank?

1999 waren 21,5 Prozent der Weltbevölkerung übergewichtig oder adipös, 2006 waren es bereits 44,9 Prozent, also die Hälfte der Menschen. Die WHO definiert Adipositas nicht nur als Risikofaktor für Krankheiten, sondern als Krankheit selbst. Es sei dennoch zu fragen, "ob ein hohes Körpergewicht für alle Menschen ein Krankheitsrisiko oder eine Krankheit selbst darstellt", meinte Thomas Dorner vom Institut für Sozialmedizin der Uni Wien. Könnte es auch sein, dass die Festschreibung als Krankheit und die damit verbundene Stigmatisierung selbst krankmachend wirkt? Depressionen könnten, wenn auch nicht belegt, einen solchen Hinweis liefern. Aus der letzten Gesundheitsbefragung in Österreich geht hervor, dass neun Prozent der Frauen und fünf Prozent der Männer unter ärztlich diagnostizierter Depression leiden. Bei den Übergewichtigen sind es bereits elf Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer und bei den Adipösen 15 Prozent der Frauen und sieben Prozent der Männer.

Bauchumfang wichtiger als BMI

Dorner übte auch Kritik am BMI, der nach wie vor als Maßstab herangezogen wird, jedoch nichts darüber aussagt, wo das ungesunde Fett angesiedelt ist. Denn um den Bauch sei es am gefährlichsten. Bei Frauen betrage ein optimaler Bauchumfang 80 Zentimeter. Auch Alexandra Kautsky-Willer, Inhaberin des Lehrstuhls für Gender Medicine der Uni Wien, wies in ihrem Vortrag über Geschlechtsspezifika von Gewicht und chronischen Krankheiten auf das Bauchfett im Zusammenhang mit dem "metabolischen Syndrom" hin. Mit zunehmendem Alter würde das Fett am Bauch zwar bei beiden Geschlechtern mehr werden, für Frauen sei dies aber gefährlicher.

Sowohl Entzündungszeichen als auch Blutfette und Blutzucker seien bei dicken Frauen höher. Auch das Risiko für Diabetes und Herzinfarkt sei teilweise doppelt so groß als bei Männern. Bei einem BMI von über 45 verkürze sich die Lebenserwartung von Frauen um acht Jahre, doch könne eine Gewichtsabnahme die Mortalitätsrate um 25 Prozent senken, meinte Kautsky-Willer. Doch gerade beim Abnehmen tun sich Frauen schwerer als Männer.

Adipositas ist eine Suchterkrankung

"Nur ein Prozent der erwachsenen Adipösen kann das Gewicht aus eigener Kraft reduzieren. Warum ist das so schwer?", fragte Elisabeth Ardelt-Gattinger vom Psychologischen Institut der Uni Salzburg. "Ist es Faulheit, Krankheit, Willensschwäche?". Jedenfalls sei Adipositas eine chronische Krankheit, die im Alter fortschreitet, meinte sie. Der Drang nach übermäßigem Essen sei eine Suchterkrankung, die in eine Reihe mit Nikotin-, Alkohol- und Spielsucht gestellt werden könne. Der Zusammenhang mit Dopamin und Insulin sei eindeutig. Positiv zu verzeichnen sei jedoch, dass im Falle einer enormen Gewichtsabnahme auch die Sucht reduziert werden könne.

Fettleibigkeit wird weitergegeben

Die Sucht nach bestimmten - d.h. auch ungesunden - Lebensmitteln entstehe bereits im Mutterleib, erklärte Maximilian Ledochowski, Vorstand der Abteilung Ernährungsmedizin der Uni-Kliniken Innsbruck. "Das Kind lernt das gerne zu haben, was die Mutter isst", denn die Ernährung programmiere unser Epigenom und "unsere Ernährungsgewohnheiten programmieren Fettleibigkeit über drei Generationen". Die Gefahr, dass auf diese Weise Süchte nach ungesunden Nahrungsmitteln weitergegeben werden, liege vor allem am verstärkten Einsatz von Aromen in der Lebensmittelherstellung. "Geruchsstoffe haben seit jeher dazu beigetragen, gute Nahrung von schlechter zu unterscheiden. Der Nahrung zugesetzte Aromen schalten diese Kontrolle durch den Geruchssinn praktisch aus", erläuterte Ledochowski. Aromen seien zwar nicht toxisch, aber Informationsträger, die schon den Embryo und Säugling prägen.

Es sei nur mehr eine Frage der Zeit, "bis der Großteil der Bevölkerung an Essstörungen mit der Folge einer Adipositas oder einer Anorexie leiden wird". Daher müsste die "Verführung zum vermehrten Konsum von Nahrung" - Werbung für Lebensmittel in Analogie zur Zigarettenwerbung - verboten oder zumindest mit einer Gesundheitssteuer belegt werden.
(Dagmar Buchta/dieStandard.at, 03.10.2010)