Alice Schwarzer müsste man heißen, dann hätten die Dinge eine Ordnung. Die Frontfrau des deutschen Feminismus hat Ende September einen Sammelband "Verschleierte Wahrheit. Für Integration. Gegen Islamismus" herausgebracht. Die meisten der Texte verschiedener Autorinnen der Emma sind älteren Datums und wären keiner Aufregung wert, wenn sie nicht so perfekt in die Verkaufsstrategie gerade schwelender Debatten um Fudamentalismen aller Art platziert wären.
Ganz unfreiwillig landete Alice Schwarzer (wie überdies auch Thilo Sarrazin) nun im Nachbarland Österreich auf den Werbeplakaten des Rechtspopulisten H.C. Strache, der gerne Wiener Bürgermeister geworden wäre. Schwarzer distanzierte sich, sie habe nichts von dem Plakat gewusst und sei auch nicht gegen den Islam, sondern nur gegen Islamismus. Aber wer kann das schon so genau auseinander halten? Sicher ist jedenfalls, dass die große Feministin nicht alleine ist mit ihrer Furcht vor einer "Unterwanderung des Rechtsstaats durch die Scharia". Der Schleier, die Burka, der Niqab gelten ihr als allfälliges Symbol dieser Gefahr, weshalb sie "dem Hilferuf der entrechteten Frauen folgend", den östlichen Schleier so sehr bekämpft wie einst die westliche Pornografie.
Es ist leicht, sich über solche Holzhammer-Rhetoriken lustig zu machen, weniger einfach ist aber die Frage: Wie soll man sich eigentlich als westliche Feministin zu Burka/Niqab und den in Europa geplanten Verboten verhalten? Grob gesehen teilen sich die Frauenrechtlerinnen in zwei Lager. Das eine betont mit Nachdruck, wie sehr das geltende islamische Recht und die sich darauf berufende Praxis Frauen benachteilige, Schleierzwang, Ehrenmorde, Polygamierecht des Mannes, krudeste Scheidungsregeln, teilweise Bildungsverbot für Frauen sind hier inbegriffen. Solche rechtliche Ungleichbehandlung verstößt massiv gegen fundamentale Gleichheitsgrundsätze, das heißt gegen Menschenrechte, und ist mit aufgeklärten Rechtsauffassungen nicht zu vereinbaren. Das westliche, säkulare Recht hier so weit wie möglich anzuwenden, notfalls den Schleier in öffentlichen Raum zu verbieten, wird als Schutz für Frauen vor den unterdrückenden Zugriffen islamisch geprägten Patriarchats eingefordert.
Die andere und mittlerweile wohl von den meisten linken Feministinnen vertretene Position stellt die Ungleichheiten nicht in Abrede, beargwöhnt aber, dass die westliche Debatte um den Schleier die angeblichen Frauenrechte nur instrumentalisiert, um eine rassistische und immer noch kolonialistische Definitionsmacht des Westens über andere Kulturen zu legitimieren. Viele der muslimischen Frauen, so das Argument, tragen den Schleier freiwillig und sogar mit Stolz, ein Verbot sei ebenfalls Beschneidung weiblicher Freiheit. Überdies - und das ist nicht ganz von der Hand zu weisen - könne man nun wirklich nicht behaupten, dass die westliche Zurichtung weiblicher Körper von wahnsinnig großer Freiheit zeuge. Der Zwang zur Entkleidung stehe, auch wenn nicht per Gesetz vorgeschrieben, dem Zwang zur Verhüllung letztlich in nichts nach. Ein wichtiges Motiv dieser linken, "postkolonialen" Auffassung ist auch, dass man sich nicht - in feministischem Paternalismus sozusagen - anmaßen kann, für die Anderen zu sprechen, ihre Subjektposition zu okkupieren.
Beide Positionen berufen sich auf Selbstbestimmung. Während das eine Lager die Unterdrückten zur wirklichen Freiheit befreien wollen, will das andere sie in ihrer Selbstdefinition ernst nehmen. Doch solche Definitionen sind natürlich nie frei von Verstümmelungen. "Niemand darf einer Frau ihre Bedeckung vorschreiben, niemand darf sie ihr verwehren ... frau entscheidet selbst, wie sie sich kleidet, wie weit sie sich entblößt", schreibt Ingrid Turner in der Süddeutschen Zeitung. Das ist richtig und doch zu einfach. Niemand, auch der Mann nicht, entscheidet "frei" über seinen Körper, dazu sind kulturelle Systeme viel zu mächtig.
Das Problem ist nun, dass die Wahrheit in der Mitte der beiden Claims liegt, und dass es für diese "Mitte" keine befriedigende politische Sprache gibt. In seinem Aufsatz Woran erkennt man den Strukturalismus?, erklärte Gilles Deleuze einmal, dass das avancierte Denken sich von den essentialistischen "was ist" - Fragen verabschiedet hat. Dieses Verfahren ist in Fleisch und Blut der linken Positionen eingegangen, es ist ihre Weisheit, aber auch ihr Dilemma. Während Alice Schwarzer auf die Frage "Was ist die Burka?" ganz eindeutig antworten kann: "Ein Instrument zur Unterdrückung der Frau", muss eine linke Position sich hin- und her biegen.
Was die Burka bedeutet, hängt vom Kontext ab und natürlich davon, wer die Burka warum, in welchem Rahmen und zu was verwendet. Solches Argumentieren ist weise, reflektiert und richtig. Aber irgendetwas bleibt dabei auf der Strecke, das "Faktische" sozusagen, und es ist der Blick auf die "Fakten", der von der rechten Seite immer wieder eingefordert wird. Wir müssen doch mal hinsehen, heißt das Argument, die Burka ist nicht nur Symbol, sondern auch reales und sehr schlimmes Kleidungsstück, wir dürfen nicht tatenlos zusehen, der Staat, so klagt auch die Jugendrichterin Kirsten Heisig in ihrem Buch Das Ende der Geduld, darf kein "zahnloser Tiger" werden, "keine falsche Toleranz".
Kann Toleranz falsch sein? Wohl kaum. Die rechte Position hat, wie jede politische Meinung, ihre sehr blinden Flecken. Aber die linke generiert in ihrer Zögerlichkeit oft ein eigenartiges Vakuum, und vielleicht ist es genau das, was Slavoi Zizek im Freitag mit der Metapher des "Entkoffeinierens" umschrieb: "das Bedürfnis, den anderen auf Distanz zu halten". Irgend etwas an dem Impuls der starken Kaffeebohnen Kirsten Heisig und Alice Schwarzer ist richtig. Ihr Fehler liegt nur darin, dass sie so aufgeregt eine Wahrheit entschleiern wollen, ohne zu bedenken, dass der Schleier Teil der Wahrheit ist. Dialektik nannte man das einmal, aber das Wort ist irgendwie aus der Mode gekommen.
Wie also sähe eine kluge feministische Position aus? Sie sollte sich beschränken und klar machen, dass die hiesige Debatte um ein Burkaverbot nichts mit der arabischen Welt zu tun hat, sondern mit einer Selbstverständigung Europas über den Umgang mit dem religiösen wie politischen Islam. Es geht hier Symbolpolitik, ausgetragen am Körper von Frauen. Letztlich bleibt die europäische Debatte eine abstrakte Selbstbespiegelung, denn eigentlich können wir nicht wirklich über die Bedeutung der Verschleierung sprechen, solange wir nicht in den entsprechenden Regionen oder Milieus selbst gelebt haben.
Die feministische Haltung zur Vollverschleierung lässt sich daher nicht generell und universalistisch argumentieren, sondern nur in Kontexten und mit Abwägung verschiedener Werte. Es kann durchaus sein, dass im arabischen Raum ein Widerstand gegen jede Form von Verschleierung die einzig richtige feministische Option wäre. Für Europa ist das - bis auf weiteres - nicht angemessen. Ohne die Gewalt, die in der Vollverschleierung steckt, zu verleugnen, gilt doch, dass ein Verbot der Verschleierung muslimische Frauen hier eher beschneidet als befreit. Um Frauen zu unterstützen, hilft eher der "Ausbau von institutionellen Maßnahmen, welche Frauen dabei helfen, ihre individuellen Rechte besser einzufordern", argumentieren Katrin Rieder und Elisabeth Joris in der NZZ.
Es bleibt, dass es eine eindeutige Position nicht geben kann. Es sei denn, man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. In Paris sind neulich "Niquabitches" - obenrum voll verschleiert, unten fast ohne - an verschiedenen Ministerien vorbeiflaniert, um zu testen, ob sie wohl verhaftet werden (zu sehen auf Youtube). Die Frauen, die in ihrer oberen Körperhälfte zum Ärgernis des laizistischen Staates werden und in der unteren zum Affront gegen den orthodoxen Islam, bringen es auf den Punkt: Wer es schafft, entgegen gesetzte Regime gleichzeitig zu verprellen, ist - feministisch gesehen - auf der richtigen Seite. (Andrea Roedig/dieStandard.at, 20.10.2010)