"Meine ganze Arbeit war ein Protest gegen die Art, wie wir uns die Welt zurechtlegen. Sobald wir mit der Welt interagieren, zeigen wir Gefühle." Die Physikerin Evelyn  Fox Keller schreibt auf, wie - meist männliche - Wissenschafter über die Welt reden. Als Linguistin oder als Feministin möchte sie deshalb nicht bezeichnet werden.

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Standard: Seit 20 Jahren üben Sie nur mehr selten explizit feministische Kritik an den Wissenschaften. Konnten Sie das einfach so ablegen? Diese Arbeit bildet doch einen beträchtlichen Teil Ihrer Biografie.

Fox Keller: Ja, meine Arbeit über Gender und Wissenschaft ist ein Produkt meiner Geschichte. Das Aufkommen feministischer Theorien war eine aufregende Herausforderung, und ich war damals in der Position, Fragen aufwerfen zu können. Ich bin ja Physikerin. Als ich mich dann in den 1980er-Jahren mit anderen Physikern unterhielt, sagten diese: "Du sprichst ja nur darüber, was Physiker sagen, nicht darüber, was sie eigentlich machen." Sie hatten recht: Ich schrieb darüber, wie Wissenschafter sprechen. Dass die Sprache die Wissenschaft beeinflusst, war den meisten nämlich nicht bewusst. Dieselbe Fragestellung hat mich dann in der Biologie beschäftigt.

Standard: Ihr Bestseller "Das Jahrhundert des Gens" ist demnach ein linguistisches Buch und nicht das einer feministischen Naturwissenschafterin?

Fox Keller: Mich interessiert, wie die Sprache die Ideen beeinflusst. Das meiste davon hat gar nichts mit Gender-Aspekten zu tun. Wegen meiner früheren Arbeit bin ich oft verpflichtet, immer wieder an dieses Thema anzuknüpfen. Natürlich liefere ich auch Argumente dafür, dass Frauen die Wissenschaft verändern.

Standard: Etwa in Ihrer Biografie über die Nobelpreisträgerin Barbara McClintock ...

Fox Keller: ... die offensichtlich auf zwei Arten gelesen werden kann. Die populäre Lesart ist für mich dennoch illegitim, und sie wird vom Text keineswegs unterstützt. Meine eigenen Ambitionen sind jenen von McClintock sehr ähnlich: Sie träumte von einer Wissenschaft, in der Gender-Aspekte verschwinden. McClintock betrieb keine "weibliche Wissenschaft". Ihre Wissenschaft ist vielmehr durch Ablehnung von Gender-Kategorien gekennzeichnet.

Standard: Sie schreiben: McClintock war erfolgreich, weil sie Soft Skills besaß; weil sie ein "Gefühl für den Organismus" hatte. Damit wollen Sie also nicht sagen: Sie war erfolgreich, weil sie eine Frau war.

Fox Keller: Womit Sie recht haben: Soft Skills sind nichts Weibliches. Das Problem war, dass viele nur den Titel A Feeling for the Organism gelesen haben und dann behaupteten, es handle sich um ein feministisches Werk.

Standard: Wirklich nur wegen des Worts „Gefühl" im Titel?
Fox Keller: Nur wegen dieses Worts! Aber meine gesamte Argumentation kreiste darum, das Wort "Gefühl" von seiner falschen Gender-Zuschreibung zu lösen. Ich wollte das endlich loswerden.

Standard: Es geht Ihnen also um falsche Dichotomien à la: "Soft" ist feminin und "hart" ist maskulin?

Fox Keller: Meine ganze Arbeit war ein Protest gegen die Art, wie wir uns die Welt zurechtlegen. Der Subtext in "A Feeling for the Organism" ist lediglich: "Ja, wir müssen ein Gefühl für den Organismus entwickeln. Nicht, weil das eine weibliche, sondern weil es eine menschliche Fähigkeit ist."

Standard: Plädieren Sie generell für mehr Soft Skills in den "harten" Naturwissenschaften?

Fox Keller: Ich denke, man kann kein Physiker sein, ohne einnehmend darüber zu reden. Auch als Wissenschafter sprechen wir über so etwas wie Gefühle zu den Elektronen. Sobald wir mit der Welt interagieren, zeigen wir eben Gefühle - als Mann oder als Frau.

Standard: 25 Jahre nach "A Feeling for the Organism" interessieren Sie sich wieder für eine "falsche Dichotomie": angeborene und erlernte Fähigkeiten. Warum ist das für Sie ein falscher Gegensatz?

Fox Keller: Es geht mir wieder um die Sprache. Die Debatte um die Frage, was durch Anlage und was durch Umwelt bedingt wird, ist hartnäckig. Aber mein Argument ist, dass die Fragestellung selbst merkwürdig ist. Historisch gesehen taucht dieser Widerspruch zwischen angeborenen und erlernten Fähigkeiten erst im 19. Jahrhundert auf. Vorher war die Fragestellung eine andere: Menschen machten sich Gedanken darüber, wie wir die Umwelt beeinflussen können - also welche Entwicklungsmöglichkeiten die Natur bietet. Die Annahme, dass es einen Sinn ergäbe, Anlage und Umwelt getrennt voneinander zu diskutieren, kam erst mit der Vererbungstheorie auf. Die einzig sinnvolle Frage müsste lauten: "Wie fördern wir unterschiedliche menschliche Merkmale?"

Standard: Das wäre auch eine wunderbare Fragestellung für den Gender-Aspekt gewesen. In Ihrem Buch "The Mirage of a Space Between Nature and Nurture" kommt dieser nicht mehr vor. Warum?

Fox Keller: Es stimmt, dass ich mich zuerst veranlasst sah, das Thema wieder aufzugreifen, als - wie war noch mal sein Name - der Harvard-Präsident ...

Standard: ... behauptete, es gäbe nur wenige Frauen, die aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung ...

Fox Keller: ... überhaupt in der Lage seien, höhere Positionen in den Naturwissenschaften zu bekleiden. Exakt! Larry Summers war das, dem passieren ständig solche Ausrutscher. Da hab ich mich schon gefragt, wie kluge Menschen so etwas tun können. Diese Ausrutscher sind so endemisch, dass sich viele Leser fragen werden: „Warum reitet die Keller auf ihren sprachlichen Kleinlichkeiten herum?" Sie sind aber wichtig.

Standard: Sie haben den Gender-Aspekt dennoch nicht formuliert.

Fox Keller: Ich weiß nicht, was der Gender-Aspekt in diesem Buch hätte sein können. Mich interessiert weniger der Missbrauch des Vererbungsarguments. Ich bin am Problem dahinter interessiert: das falsche Verständnis dafür, welche Fragen überhaupt gestellt werden können und welche nicht, weil sie gar nicht sinnstiftend sind.

Standard: Haben Sie sich emanzipiert von Gender-Fragen?

Fox Keller: Das Gender-Thema ist nicht mehr mein Thema! Ich habe als theoretische Physikerin begonnen und über mathematische Biologie nachgedacht, lange bevor mich der Gender-Aspekt in den Naturwissenschaften interessierte. Meine intellektuelle Karriere hat viele Aspekte gesehen. Aber wahrscheinlich bin ich die Einzige, die glaubt, dass ich immer über ein und dieselbe Sache spreche. (Sascha Aumüller/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.11.2010)