Ein türkischer Mann verkauft Kopftücher.

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Frauen, die in der Stadt Amasya an den Kursen zum Berufseinstieg teilnehmen. Das Projekt wird von Bilge Ari (Mitte) geleitet.

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Das Tal ist eng: 80.000 EinwohnerInnen zählt die Stadt Amasya.

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Eine Kleinstadt im Pontischen Gebirge ist zugegebenermaßen nicht der beste Platz für gesellschaftlichen Freisinn. "Wenn ich am Tag dreimal an einem Geschäft oder Café vorbeigehe, dann überlege ich schon: Was werden sie denken? Glauben sie, ich will etwas von ihnen? Man lebt hier vorsichtig", sagt Burca, eine junge Frau, die mit 19 Jahren aus Istanbul hierher geheiratet hat. Jetzt ist sie 22, zu Hause wartet ihr Kind, und sie würde gern haben, was nur rund ein Viertel der türkischen Frauen hat: einen bezahlten Beruf.

80.000 EinwohnerInnen zählt Amasya, in der Antike eine der wichtigsten Städte Kleinasiens, wo der Yeşilirmak auf dem Weg zum Schwarzen Meer fließt. Das Tal wird eng hier, fast schon erdrückend. Malerisch für TouristInnen, weniger für Frauen wie Burca. Schwer lastet auf ihnen der Druck der Ehemänner und Schwiegereltern, die nicht einsehen, warum eine Frau außerhalb des Hauses einer Arbeit nachgehen sollte. Es gilt als wichtigster Grund dafür, dass die Türkei trotz Wirtschaftsboom mit ihrer Frauenerwerbsquote den letzten Platz unter den OECD-Staaten einnimmt und auch weltweit in der Schlussgruppe liegt, selbst hinter manchen anderen muslimischen Ländern wie Afghanistan.

Klage der Weltbank

Das war nicht immer so: 1955 hatten noch mehr als 70 Prozent der Türkinnen einen anderen Beruf als Hausfrau, 2005 aber waren es nur noch 25 Prozent. Langsam steigt die Frauenquote seither an; zur Erntezeit in diesem Sommer lag sie bei 28,6 Prozent. Die Weltbank beklagt das "unausgeschöpfte Potenzial" der erwerbsfähigen türkischen Frauen. Die Männer sind dafür überall: hinter Ladentischen, in Restaurants, Friseurläden, am Steuer von Bussen und Taxis, als Putzkräfte in Stiegenhäusern. Banken und Schulen sind die große Ausnahme.

In Amasya ermuntert die Stadtverwaltung die Frauen, in Heimarbeit Stickereien und Schmuck anzufertigen. "Kulturhäuser" sind in der osmanischen Altstadt eröffnet worden, wo BesucherInnen dann die Ringe und Tücher kaufen sollen. Es ist eine konservative Politik, die nur wenig am Rollenbild ändert. "Wenn eine Frau zum Beispiel in einem Cafe zu arbeiten beginnt, geht das Gerede los: Ihr Ehemann ist nicht in der Lage, für die Familie zu sorgen, heißt es dann. Das ist die Ironie", sagt Ayda, eine 38-Jährige, die nun eine Konditorei eröffnen möchte. Zusammen mit Burca und 300 anderen Frauen in Amasya besucht sie Berufskurse. Das Programm - finanziert von der EU - hat eine NGO in Ankara geschrieben. Von dort reist auch eine Anwältin an, die Familienrecht unterrichtet. "Wir haben einen Laden, den wir vermieten", erzählt Ayda, "mein Mann sagt immer, er werde ihn verkaufen. Heute habe ich gelernt, dass er das gar nicht kann. Der Laden läuft auf meinem Namen, ich will ihn behalten".

"Alle Frauen erleben Gewalt"

850.000 neue Arbeitskräfte drängen in der Türkei jedes Jahr auf den Markt. Bei hohen Wachstumsraten um sieben Prozent ist das verkraftbar. Aber auch, weil Männer nicht wirklich mit Frauen um Arbeitsplätze konkurrieren müssen. Das Kopftuch spielt dabei auch eine Rolle. Einer kürzlich veröffentlichten Umfrage zufolge glauben 72 Prozent der TürkInnen, mehr Frauen würden beschäftigt, wenn das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst fiele. Auch in der Privatwirtschaft ziehen Hochschulabsolventinnen, die das Kopftuch tragen, bei Bewerbungen häufig den Kürzeren. In Finanzunternehmen, Anwaltskanzleien oder PR-Agenturen gilt das Kopftuch als kundenabschreckend. Der Frauenunternehmerverband Tikad, der der konservativ-muslimischen Regierungspartei AKP nahesteht, hatte die Umfrage in Auftrag gegeben. Doch der maßgebliche Grund für die geringe Zahl der Frauen im Berufsleben bleibt schlicht die Unterdrückung. "Alle Frauen in meiner Klasse erleben in ihrer Ehe Gewalt, manche seelisch, andere körperlich. Das kann ich sehen", sagt Elif Erkol, die Anwältin, die in Amasya unterrichtet. "Doch schon die Tatsache, dass diese Frauen an den Kursen teilnehmen, ist wichtig. Sie mussten wahrscheinlich dafür kämpfen." (Markus Bernath aus Amasya, DER STANDARD Printausgabe 10.12.2010)