Der Artikel "Mein Busen gehört mir" ist in der neuen MALMOE im Rahmen eines Schwerpunktes zum Thema Stillen erschienen.

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Foto: Malmoe Dezember 2010

Neun Monate Schwangerschaft war für Terese eine anstrengende Zeit. "Da wird man zum Gattungswesen gemacht", resümiert sie heute. Der Kollege, der eine ganz im Ernst als Säugetier bezeichnet; die Infobroschüren, in denen Stillen als die "natürlichste Sache der Welt" hochgestapelt wird; die Leiterin der Schwangeren-Gymnastik, die ganz selbstverständlich Stilltipps verteilt, aber die Alternativen nicht einmal erwähnt: in dieser Realität ist es denkunmöglich, dass eine werdende Mutter nicht stillen will. Wo frau sich doch für das Baby entschieden hat. Und auch sonst ganz vernünftig auf Körper und Gesundheit achtet. Selbstverständlich unterwirft sich die zukünftige Mutter den Strapazen des Voll-Stillens, lautet der Grundtenor. Wer A sagt, muss auch ... den Busen reichen!

Am schrägsten kam ihr vor, dass das Prinzip Gleichberechtigung in diesen Debatten überhaupt keine Rolle spielte. Das sei eben so, dass die Mutter während den anstrengenden ersten Lebensmonaten besonders gefordert und unabkömmlich sei. Als Vater könne man da vorläufig nur zuschauen. Aber ist das nicht ungerecht, wo die Frau bereits neun Monate allein die Mühen der Schwangerschaft ertragen hat? Für Terese war die gleiche Beteiligung des Vaters und damit auch die Herstellung der Gleichheit innerhalb der Beziehung jedenfalls einer der Hauptgründe, nicht Stillen zu wollen.

Die Verwirklichung des "democratic bonding", wie sie es sich ausgedacht hatte, schien ihr ursprünglich naheliegend. Ausgerüstet mit dekonstruktivistischen Geschlechtertheorien, wie sie heute an jeder Universität gelehrt werden, müsste es doch ein leichtes sein, Lebensmodelle jenseits von Geschlechterdifferenz und zweigeschlechtlicher Matrix in den Bereich der Säuglingspflege hineinzureklamieren. Doch falsch gedacht: Beim Thema Stillen bleibt selbst in emanzipierten Kreisen von diesen theoretischen Einsichten wenig übrig. Natürlichkeit rules. (Und das Baby natürlich. Aber dazu vielleicht ein andermal.)

Wellen des Stillens

Warum es überhaupt dazu kommen konnte, dass Stillen in der informierten Öffentlichkeit heute mehr oder weniger alternativlos dasteht, ist bemerkenswert. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Praxis in den 1960ern und 1970ern fast ausgestorben war. Die Schulmedizin war damals auf dem Standpunkt, dass die industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrung ernährungstechnisch der Muttermilch gleichgestellt, wenn nicht gar überlegen war und riet Müttern bei den geringsten Schwierigkeiten zuzufüttern oder eben abzustillen. Eine Hebamme im Geburtsvorbereitungskurs bringt es auf den Punkt: "Es herrschte die Vorstellung von der degenerierten Frau des 20. Jahrhunderts, die einfach nicht mehr in der Lage ist, ihr Kind adäquat zu stillen." Damals war es ein Kampf, von der Geburtshilfe nicht am Stillen gehindert zu werden. Dementsprechend niedrig waren die Stillraten in den hochindustrialisierten Ländern: Nirgendwo lag der Anteil jener Kinder, die mehr als vier Wochen gestillt wurden über 10 Prozent .

Dann waren es vor allem Feministinnen selbst, die im Zuge der zweiten Frauenbewegung ihr Recht aufs Stillen wieder selbstbewusst einforderten. In einer politischen Phase, wo die Suche nach den einzigartigen Fähigkeiten von Frauen hoch im Kurs lag, sollten sich Mamas endlich wieder stolz fühlen dürfen, ihr Baby selbst ernähren zu können. Feministinnen wie die Soziologin Barbara Sichtermann sprachen davon, dass das Stillen eine sexuelle - und vor allem patriarchatsfreie - Verbindung zwischen Säugling und Mutter sei, die der männerzentrierten Schulmedizin natürlich ein Dorn im Auge war. Zeitgleich gewannen Mütterorganisationen wie die katholisch verwurzelte "Leche League" an Einfluss im amerikanischen Gesundheitsapparat und bei den internationalen Organisationen. Auch die Laktationsmedizin vollzog einen Schwenk und bemühte sich von nun an, die Vorteile des Stillens gegenüber der Fläschchennahrung in immer neuen Studien zu belegen. Heute weiß jede Frau, die ein Kind erwartet: Vollzeitstillen über mindestens sechs Monate hat positive Effekte auf das Allergie-Risiko und das Immunsystem des Kindes. Wer diese Tatsachen kennt und trotzdem nicht stillt, muss doch eine Egomanin sein, oder? So verwundert es auch nicht, dass Frauen, die nicht stillen können oder wollen, in Internetforen bekennen: "Ich hatte am Anfang das Gefühl, dass ich mein Kind mit der Flasche vergifte". 

All diese Faktoren gemeinsam bewirkten, dass sich Stillen innerhalb von nur weniger Jahre von einer nebensächlichen Praxis zum normativen Mainstream verwandelt hat. Heute gilt Stillen als das gesündeste, praktischste und nobelste, das es im Umgang mit Babys zu tun gibt. Dabei spielt es keine Rolle, dass einige Vorzüge, die dem Stillen angerechnet wurden, bereits wieder widerlegt wurden: So war viele Jahre von Asthma-Prävention die Rede, heute sagen Studien das Gegenteil. Auch, dass gestillte Kinder intelligenter würden. Inzwischen weiß man auch, dass Zufüttern bereits nach dem vierten Monat mehr zur Allergieprävention beiträgt als sechsmonatiges Vollstillen. Für all jene Frauen, die sich brav an die Vorgaben gehalten haben, heißt das wohl: Pech gehabt!

Omnipräsenter Gesundheitsdiskurs

Das Problem ist nicht, dass in der Gegenwart mehr Frauen stillen - es sei ihnen und ihren Babys mehr als gegönnt. Tatsächlich werden Mütter aber mit medizinischen Fakten in ein moralisches Zwangskorsett gefesselt, das ihnen gar nicht mehr ermöglicht, frei zu entscheiden, ob sie stillen wollen oder nicht. Die Beständigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Autorität der Medizin scheinen heute unantastbar zu sein, und das, obwohl sich ja gerade die medizinischen Empfehlungen zur Säuglingsernährung in den letzten 30 Jahren um 180 Grad gedreht haben. In Verbindung mit dem Nimbus des Stillens als "natürlichste Sache der Welt" gilt ein Verstoß gegen ihre Regeln inzwischen als moralische Verfehlung. Dabei überrascht es nicht, dass dieser Mechanismus vor allem bei den gebildeteren und bürgerlichen Schichten von Frauen greift: Sie stillen signifikant häufiger und auch länger als ihre weniger gut situierten Schwestern. Wird sich also schon bald ein neues Merkmal namens Stillen in die "Unterschichtsdebatte" einfinden? 

Mit solch klassistischen Fragen beschäftigt sich die französische Philosophin Elisabeth Badinter erfreulicherweise nicht: Ihr neues Buch bringt das Thema Stillen und, ganz wichtig, das dazugehörende Mutterbild endlich wieder einmal breitenwirksam und kritisch aufs Tapet. In "Der Konflikt - Die Frau und die Mutter" beschreibt sie das Ausbreiten des Stillens selbst im traditionell von "Rabenmüttern" bevölkerten Frankreich als Teil eines gesellschaftlichen Backlashs, der Mütter ihren Lebenssinn wieder zu Hause bei Kind und Heim suchen lässt. Verantwortlich für den Stilldruck sieht sie u.a. internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die internationale Stillempfehlungen ausgibt ("sechs Monate voll stillen"). Darüber hinaus hat die WHO einen Kodex ausgearbeitet, der die Unterzeichner-Länder daran bindet, Werbung für Säuglingsnahrung streng zu reglementieren und das medizinische Personal anzuhalten, die Vorzüge des Stillens zu betonen. 

Lesenswert an Badinters Buch sind schließlich vor allem zwei Aspekte: Zum einen beschreibt sie den aktuellen Naturalismus, der nach der Philosophin andere im Sinken befindliche gesellschaftliche Autoritäten abzulösen droht, vortrefflich: "Heute fungiert die Natur als entscheidendes Argument, wenn Gesetze erlassen oder Ratschläge erteilt werden. Sie ist zu einer kaum angreifbaren, ethischen Bezugsgröße geworden (..). Sie, nur sie verkörpert das Gute, Schöne und Wahre, das Platon so teuer war". Ihre Analyse von der "Rückkehr zur Natur" lässt sich etwa in der Popularität der Soziobiologie, aber auch in den aktuellen wissenschaftlichen Trends zum Thema Elternschaft bestätigen: Heute hat die Geburtshilfe und die Medizin die "weibliche Natur" zur normativen Richtschnur erkoren. Dabei bringt sie sie mit ihren Praktiken und Erkenntnissen gerade erst und umso unüberwindlicher hervor. 

Weiters legt Badinter einleuchtend dar, was die gesellschaftlich-philosophischen Hintergründe für den neuen Stillzwang sind: Im Gegensatz zu früher, als Kinder mehr oder weniger willkürlich auf die Welt kamen, entscheiden sich Frauen heute aus freien Stücken für ein Baby. Schließlich gibt es funktionierende Verhütungsmethoden und - wenn diese einmal versagen - auch noch die straffreie Abtreibung. Die freie Entscheidung schlägt aber vor allem für die werdende Mutter in eine historisch einmalige Verantwortlichkeit um, die sich gerne in dem Bewusstsein äußert, ihrem Kind "alles" schuldig zu sein - so auch die Mutterbrust. Nicht ohne Grund stellt der oberste Sanitätsrat in seinen Stillempfehlungen für Österreich fest, dass jeder Säugling "das Recht hat, gestillt zu werden".

Mein Busen gehört mir

Das Schweigen der Feministinnen zu diesem neuen Natur-Diktat und dem Hochleistungsdrive der verantwortungsvollen Mutterschaft hat Terese sehr verwundert - und verunsichert. Obwohl sie es ursprünglich nicht will, legt sie ihr Baby dann doch an und stillt für ein paar Wochen. Doch Terese wird - ein weiteres Mal - von der "weiblichen Natur" betrogen. Das Stillen bereitet ihr große Schmerzen, das Baby weint bei jedem Anlegen bittere Tränen und sie selbst hat keine freie Minute mehr. Die erhoffte Zeit, in der das Stillen ganz unkompliziert, schmerzfrei und harmonisch werden würde, in der die versprochenen Glückshormone ihren Körper durchfließen würden, will sich bei ihr einfach nicht einstellen. Abzustillen stellt sich nach langem inneren Kampf als die richtige Entscheidung heraus: Nach erfolgreicher Entzweiung verbringt sie seit langer Zeit wieder eine ungestörte Nacht allein - im Gästebett. Ihr Busen gehört jetzt wieder ihr. Und das Baby versorgt inzwischen der Vater, der nun auch endlich ernähren darf. (Ina Freudenschuß, 14.12.2010)