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Provisorium als Dauerzustand: 1.199 Camps gibt es im Süden des Landes und der Gegend um die Haupstadt Port-au-Prince. Sie bieten den Frauen weder Privatsphäre noch getrennte Waschgelegenheiten oder Latrinen. Sie sind schwer zu sichern, und die Frauen leben in tagtäglicher Furcht vor sexuellen Übergriffen.

Foto: APA/AP/dapd/Ramon Espinosa

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Hilfsorganisationen wurden in den vergangenen zwölf Monaten hunderte Fälle von Vergewaltigungen gemeldet. Viele Frauen wenden sich aber erst gar nicht an (semi)offizielle Stellen: Weil sich die Täter, meist junge Männer, die sich in Gangs zusammenrotten, immer noch in den Camps aufhalten, haben sie die Hoffnung auf Hilfe aufgegeben.

Foto: APA/AP/dapd/Guillermo Arias

"Ich bin eine der Leiterinnen von KOFAVIV, einer Graswurzel-Frauenbewegung, die sich um Opfer sexueller Gewalt kümmert. Ich selbst wurde 1992 und 2003 vergewaltigt. Ich lebe in einem Zelt in einem Lager. Ich habe Gewalt gegen Frauen und Mädchen miterlebt. Und ich habe auch die vollkommen unzureichende Reaktion der Regierung auf diese Verbrechen miterlebt. KOFAVIV hat seit dem Erdbeben mindestens 242 Fälle von Vergewaltigungen mitbekommen. Wir warten bis heute auf eine strafrechltiche Verfolgung der Täter."

Opfer statt Täter bestraft

Diese Worte richtete die Haitianerin Malya Villard-Apollon im Juni 2010 an den Menschenrechtsausschuss der UN. Ihr Land war bereits 2008, nach den verheerenden Wirbelstürmen, dort Thema; genauer: Der Anstieg der sexuellen Gewalt gegen Frauen nach den Naturkatastrophen, der die UN damals schon alarmierte. Wo es Anstrengungen der Regierung gegen die Gewalt gab, machte die nächste Katastrophe sie zunichte: Das Jahrhundertbeben der Stärke 7,0 vor knapp einem Jahr, am 12. Jänner 2010. Zehntausende Gebäude stürzten in Sekundenschnelle ein. Erst als die riesigen Staubwolken sich nach Tagen langsam verzogen hatten, offenbarte sich das ganze Ausmaß der Katastrophe: Hunderttausende Menschen starben, weitere Hunderttausende wurden verletzt, Millionen Menschen obdachlos. Sie mussten sich in den Trümmern ihrer Häuser oder in den überall wuchernden Zeltlagern ein provisorisches Dach über dem Kopf schaffen.

Jetzt, ein Jahr nach dem Jahrhundertbeben, ist das Provisorium zum Dauerzustand geworden. Und die Situation der Frauen hat sich noch weiter verschlimmert, dokumentiert eine neue Amnesty International-Studie, die fünfzig Opfer zu Wort kommen lässt, die von den Behörden keine Unterstützung erfahren haben - wie Tausende andere. "Frauen, die ohnedies mit dem Leben kämpfen, weil sie ihre Liebsten, ihre Wohnung und ihre Lebensgrundlage verloren haben, müssen nun der zusätzlichen Bedrohung durch sexuelle Gewalt ins Auge sehen", sagt Amnesty-Experte Gerardo Ducos. Die Verwaltung des Landes muss erst mühsam wieder aufgebaut werden, Polizeireviere und Krankenstationen wurden zerstört - und die Opfer werden derweil von der Polizei im Stich gelassen und die Täter, großteils junge Männer in Banden organisiert, kommen ungestraft davon.

Kein Ort zum Leben

Lokalen AktivistInnen wurden allein in den ersten 150 Tagen nach dem Beben 250 Vergewaltigungen in 15 der mittlerweile 1.199 Camps gemeldet. "Am 20. Januar, Abends, schossen einige junge Männer mit Gewehren herum. Sie stürmten in unser Lager und schnappten sich meine 19-jährige Nichte. Sie kamen einfach rein, packten sie und schleiften sie raus... Sie wurde von mehreren Männern vergewaltigt. Gegen 21 Uhr haben sie sie geholt und erst fünf Stunden später wieder freigelassen", schildert eine Frau im Amnesty-Bericht "Nachbeben". In ihrem Lager fänden sie keine Sicherheit, sagt sie, und auch außerhalb der Camps gäbe es nirgendswo Schutz: "Am Abend können wir nicht rausgehen. Es wird immer geschossen und Dinge werden in Brand gesteckt. Wir haben alle Angst. Wir können jeden Moment vergewaltigt werden."

Die wenigsten Notlager wurden systematisch geplant und angelegt. Sie befinden sich heute noch auf ehemaligen Mülldeponien, in Überschwemmungsgebieten oder am Fuß ungesicherter Steilhänge. Stromanschlüsse und Latrinen gibt es kaum, die Cholera greift um sich. Ende August 2010 zählte Amnesty International 891 Lager allein im Stadtgebiet der Hauptstadt Port-au-Prince. Nur drei dieser Lager wurden von internationalen Hilfsorganisationen errichtet und geplant und entsprechen daher weitgehend internationalen Standards. In diesen drei Camps leben 12.000 Menschen - ein Buchteil der mehr als einer Million Menschen, die bis heute im Gebiet der Hauptstadt als wohnungslos registriert sind.

"Der Ort, an dem wir wohnen, ist kein Ort zum Leben", schildert eine Frau. "Tagsüber kommen wir vor Hitze fast um, und in der Nacht können wir nicht raus, weil wir Angst haben, dass wir vergewaltigt werden. Ab acht Uhr früh ist es unter den Planen nicht mehr auszuhalten, die Hitze ist unerträglich. Wenn es regnet, dringt überall Wasser ein. Dann müssen wir auf Stühle klettern und unser letztes Hab und Gut schwimmt davon. Die Ratten fressen uns bei lebendigem Leib, sie kommen sogar in unsere Betten und beißen uns im Schlaf."

Frauen in Pläne zu Schutzmaßnahmen einbeziehen

Eine andere Frau erzählt, wie eine Bande sie und ihre Familie mitten in der Nacht überfiel. Ihr und einer Freundin wurden die Augen verbunden, bevor die Männer sie vor den Augen ihrer eigenen Kinder vergewaltigten. Sie kann nicht sagen, wie viele es waren. "Als sie weg waren, habe ich nichts getan. Ich reagierte gar nicht. Vergewaltigungsopfer sollten ins Krankenhaus gehen, aber ich ging nicht, weil ich kein Geld hatte. Ich weiß nicht, wo es eine Klinik gibt, die Gewaltopfer behandelt."

Kurz vor dem Jahrestag des Bebens und angesichts der anstehenden Präsidentschafts-Stichwahl Mitte Jänner fordert Amnesty International die neue Regierung auf, im Rahmen des Wiederaufbaus des Landes einen Plan zu erarbeiten, wie Frauen besser geschützt werden können - und dabei die Betroffenen selbst voll einzubinden. "Bisher wurde das Problem sexueller Gewalt im Rahmen der Reaktion auf die umfassende humanitäre Krise weitgehend ignoriert", kritisiert Ducos. Damit sexuelle Gewalt nicht weiter um sich greife, müsse die neue Regierung den Schutz von Mädchen und Frauen in den Lagern endlich in den Mittelpunkt stellen. (red, dieStandard.at, 06.01.2011)