Elisabeth Fraller/George Langnas (Hg.)
Mignon.

Tagebücher und Briefe einer jüdischen Krankenschwester
in Wien 1938-1949
StudienVerlag, Wien, 2010, 504 S., 29,90 Euro
ISBN 978-3-7065-4960-8

Cover: StudienVerlag

"Ich habe viel Schweres, viel Unglaubliches erlebt, - aber es ist doch gegangen + hat mich gestärkt + gereift. Ich werde schon auch diese Zeit durchstehen, ich fühle es, ich hoffe es fest. Und dann wird es so sein, wie ich es erträumte: Ich werde vor Mollychen + Georgerl hintreten + sagen dürfen: ich habe sie nicht verraten, Euere geliebten Grosseltern; ich blieb bei ihnen bis zum letzten Atemzug + weiss um ihre Gräber." (Tagebucheintragung Mignons vom 6. April 1945, während der Bombenangriffe wenige Tage vor Kriegsende)

Als die Jüdin Mignon Langnas ihre Kinder Manuela ("Mollychen") und Georg am 6. Dezember 1939 blutenden Herzens mit einer Freundin auf den Weg von Wien in die Emigration nach New York schickt, ahnt sie nicht, dass es sieben Jahre dauern wird, bis sie die beiden wiedersehen wird. Die Kinder werden in den USA von geflüchteten Verwandten und Freunden empfangen und kommen in einem Waisenheim unter. Dem Vater, Leo Langnas, gelingt es nach vielen Strapazen, im Oktober 1940 nachzukommen. Nur Mignon bleibt in Wien: Sie will ihre alten und gebrechlichen Eltern nicht zurücklassen.

Die Trennung von den Kindern, die Angst und Not des Alltags sowie die immer schlimmer werdende Krankheit der Mutter setzen Mignon zu. "Was liegt seit damals und heute?! Eine lange Strasse heißer Tränen und jetzt - während ich schreibe - weiss ich auch nicht, wieso und wozu ich lebe", notiert sie am 11. Februar 1940 in ihr Tagebuch. Als eine Flucht in die USA gemeinsam mit ihren Eltern an den komplizierten Auswanderungsbedingungen und einer Kette unglücklicher Umstände endgültig scheitert, beginnt Mignon als Krankenschwester für die Jüdische Kultusgemeinde zu arbeiten, erst in einem Altersheim, dann im jüdischen Kinderspital in Wien. Ganz auf sich alleine gestellt, kümmert sie sich aufopfernd bis zu deren Tod um Vater und Mutter, die als Angehörige einer Mitarbeiterin der Kultusgemeinde von den Deportationen verschont bleiben und zu Hause in ihren Betten sterben dürfen.

Einsamkeit

Den Kindern in den USA wird die Mutter, die deutsche Sprache und das Leben in Wien indes zunehmend fremder, New York immer mehr neue Heimat. Nachdem der Briefverkehr in die USA immer schwieriger wird, bleibt Mignons einzige Vertraute ihre in die Schweiz geflüchtete Cousine Hala, der sie sich in langen Briefen anvertraut und ihre oftmalige Verzweiflung schildert. So auch nach dem Tod des Vaters im November 1943: "Ich bin jetzt ganz allein + Vatichen ist jetzt in einer Ewigkeit, in einem Frieden. Halinka, ich weiss nicht, was ich mit meinem Leben jetzt beginnen werde, denn nun hat es seinen Sinn verloren. Ich denke natürlich an Leo + die Kinderchen - aber zwischen uns liegt eine Welt + eine lange Zeit noch + ich weiss nicht, wie ich sie überbrücken soll. Mein Hiersein ist plötzlich seines Zweckes beraubt, - ich weiss auf einmal nicht mehr, wozu ich kämpfen + arbeiten soll."

Bombenhagel

Neben ihren Schützlingen im Spital kümmert sich Mignon auch um ehemalige Pfleglinge und Kolleginnen, die nach Theresienstadt deportiert wurden, indem sie mit Hilfe von Freunden Lebensmittelpakete verschickt. Die letzten Kriegswochen erlebt Mignon im Bombenhagel der Gefechte um Wien. Ihre Wohnung wird im Jänner 1945 getroffen, sie überlebt wie durch ein Wunder: "Ich kam nach einem schweren Nachtdienst nach Hause + legte mich schlafen, - überhörte die Sirene - zum Glück klopfte mein guter guter Nachbar (...) + da erst schlüpfte ich in die Kleider + einen Stock lief ich nur die Treppen herab; im III. Stock war ich - schlug die Bombe ein + verschüttete meinen guten Freund, seine geliebte Frau + mich (...) - kurz: das Haus Blumauergasse 20 existiert nicht mehr + ich besitze nur das - was ich am Leibe trage. Sonst nichts - nichts. (...) Jetzt schlafe ich: eine Nacht da, eine dort. Wohin werde ich morgen nach dem Nachtdienst gehen? Wohin?"

Tiefe Sehnsucht

Die Sehnsucht nach den geliebten Kindern, nach ihrem Mann Leo wird immer größer. "Was mache ich hier? Wozu lebe ich hier? Wem nütze ich?", schreibt sie wenige Tage nach der Befreiung im April 1945 und beschließt wenig später, Wien zu verlassen. Mit einer Gruppe KZ-Überlebender gelangt sie im Juli 1945 illegal über die tschechische Grenze, um mit einem Transport aus dem befreiten Lager Theresienstadt in die US-amerikanische Zone und damit rascher nach New York zu gelangen. Doch in Theresienstadt erkrankt sie an Typhus.

Viele Monate verbringt sie in einem Lager für "Displaced Persons" in Deggendorf, ehe sie endlich im Juni 1946 ihre Kinder in New York wieder in die Arme schließen kann. Doch der großen Wiedersehensfreude folgt der durch Geldknappheit und die Entfremdung durch die lange Trennung geprägte Alltag. Die Strapazen der vergangenen Jahre haben zudem ihre Spuren hinterlassen: Mignons Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend und sie stirbt am 8. November 1949 in einem Spital in New York.

Unbeschreiblich stark

In akribischer Kleinstarbeit hat die Medienwissenschafterin Elisabeth Fraller gemeinsam mit Mignons Sohn, George Langnas, das Leben Mignons im Wien der Nazizeit anhand von Tagebüchern, Fotos und wiederentdeckten Briefen auf 500 Seiten rekonstruiert. Geschickt untermauert Fraller die persönlichen Schilderungen Mignons mit historischem Hintergrundwissen, sodass die LeserInnen parallel auch das allgemeine Schicksal der Wiener Jüdinnen und Juden anhand von Erklärungen, Buchauszügen und Zitaten vermittelt bekommen. Das Ergebnis ist ein lebendiges, äußerst lesenswertes Zeitzeugnis und das fesselnde Porträt einer starken, mutigen Frau, die sich unter widrigsten Umständen für ihre Familie, Mitmenschen und PatientInnen aufopfert und ihre Erlebnisse und Gefühle durch das Schreiben zu verarbeiten und zu begreifen versucht.

"Zu einer Zeit, da jeder geheime Brief, jede Notiz und jegliches offene Wort ein Todesurteil bedeuten konnten, hielt sie unverdrossen fest, was geschah", schreibt Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici im Vorwort des Buches. "Mignons Aufzeichnungen sind einzigartig, weil sie eine Perspektive eröffnen, die zumeist ausgeblendet wird. Es ist die Sichtweise des einzelnen, des vereinzelten Opfers. Hier spricht eine derer, die - wenn sie nicht ohnehin durch Mord zum Schweigen gebracht worden waren - zumeist verstummten und keine Worte mehr fanden für das, was ihnen geschehen war. Hier dringt eine der wenigen Stimmen durch, deren Aussagen jahrelang ungehört blieben." (isa/dieStandard.at, 3.2.2011)