Für die Historikerin Ute Frevert treten die Emotionen in der Großstadt in dramatischerer Form auf, "weil es neue Möglichkeiten gibt, Gefühle wie Liebe, Hass oder Neid zu praktizieren".

Foto: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Foto: Buchcover Gefühlswissen/Campus Verlag

Standard: Sie leiten seit gut zwei Jahren einen großen Schwerpunkt zur Geschichte der Gefühle. Wie sind Sie denn auf dieses für die Geschichtswissenschaften doch sehr neue Thema gekommen?

Frevert: Das hat mit meiner Berufung an das Max Planck Institut für Bildungsforschung zu tun, das sich auf Englisch "human development" nennt. Das Institut gab es schon lange, bevor ich 2008 dort hinkam. Und für mich stellte sich die Frage, was ich als Historikerin zur Bildungsforschung beitragen kann, das sowohl meine Kollegen von der Psychologie wie auch mich selber interessiert. Die Gefühle und ihre Geschichte boten sich da an, weil sie beim "human development" sowohl auf der individuellen als auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene eine zentrale Rolle spielen.

Standard: Haben sich die Gefühle denn in den letzten Jahrzehnten gar so stark verändert, dass es sich lohnt, eine historische Perspektive darauf zu nehmen?

Frevert: Menschen haben natürlich immer Gefühle gehabt und diese auch ausgedrückt. Aber das 20. Jahrhundert war in besonderer Weise ein Jahrhundert der Gefühle. Das betrifft die Reflexion über Gefühle (die es in dieser Dimension allenfalls noch am Ende des 18. Jahrhunderts, allerdings beschränkt auf eine sozial sehr kleine Gruppe in Europa gab), aber auch die Bearbeitung von Gefühlen: So wie jede andere Kapitalform auch kann man Gefühle erzeugen, bearbeiten oder manipulieren. Gefühle sind heute in gewisser Weise zu einem Kapital geworden, das es zu managen gilt.

Standard: Woran machen Sie das fest?

Frevert: Denken Sie etwa an den weltweiten Bestseller "Emotionale Intelligenz" von Daniel Goleman vor ein paar Jahren. Das wurde und wird bis heute in eine Vielzahl von Trainingsprogrammen übersetzt, die gerade in der Personalentwicklung großer und mittelgroßer Unternehmen riesige Resonanz gefunden haben. Die Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen hat zudem seit den 1970er- und 80er-Jahren durch die Psychotherapieszenen großen Auftrieb gewonnen.

Standard: Sie werden bei Ihrer heutigen Vortrag in Wien, der zugleich die erste Carl Schorske-Lecture ist, über urbane Gefühle sprechen. Inwieweit nimmt die Stadt Einfluss auf die Gefühle?

Frevert: Die Gefühle der Großstadt sind zum einen keine völlig neuen oder anderen Gefühle; gleichwohl treten sie in kondensierterer und dramatischerer Form auf, weil es neue Möglichkeiten gibt, Gefühle wie Liebe, Hass oder Neid zu praktizieren. Es entwickelt sich zum anderen aber schon auch so etwas wie eine spezielle großstädtische Gefühlskultur, die man in kleineren Städten oder auf dem Land so nicht findet. Gerade auch im Wien um 1900, über das Schorske sein großes Buch geschrieben hat, waren die Nervosität und die Neurasthenie ein Thema. Hinzu trat die Erfahrung, als Individuum Teil verschiedenen "Massen" zu sein, wie das in zeitgenössischen Texten von Gustave Le Bon bis Georg Simmel zum Ausdruck kommt.

Standard: Sehen Sie sich Gefühle nur historisch oder auch kulturell vergleichend an? Gerade nach den Katastrophen in Japan etwa war das ja ein Thema: dass die japanische Gesellschaft mit ihren Gefühlen sehr viel gefasster und kontrollierter umzugehen scheint.

Frevert: In unserem Forschungsschwerpunkt geht es einerseits um Europa und Nordamerika. Andererseits schauen wir aber auch zum Vergleich nach Indien. Das ist unser Vergleichsraum, und er ist deshalb so interessant, weil Indien eine reiche eigene Geschichte hat, die aber selbst noch einmal kolonialisiert und europäisch durchherrscht wurde.

Standard: Sie forschten bisher vor allem zur Frauen- und Geschlechtergeschichte und dabei unter anderem zum Duell. War das wichtig, um sich nun der Gefühlsgeschichte zuzuwenden?

Frevert: Ausschlaggebend waren dafür meine Arbeiten über Ehre und Vertrauen, aber sicher auch der geschlechtergeschichtliche Ansatz Ihm geht es ja vor allem darum, Geschlechterstereotypen zu rekonstruieren und damit zugleich zu zerstören. Ein klassisches Stereotyp lautet, Frauen seien emotional, irrational und empfindlich, Männer hingegen kontrolliert, rational und sachlich. Aber schon für das 19. Jahrhundert, die Kernzeit solcher Vorstellungen, lässt sich zeigen, dass es in Wirklichkeit viel komplizierter war, dass beispielsweise auch Männer ihre Leidenschaften pflegten - besonders in der Politik.

Standard: Von außen betrachtet scheint es auch so, als ob die Frauen- und Geschlechtergeschichte ihre besten Jahre womöglich hinter sich hätte.

Frevert: Jede neue Forschungsrichtung kommt irgendwann in die Jahre und womöglich hat auch die Frauen- und Geschlechtergeschichte ihren scharfen Stachel ein bisschen verloren. Die neue Gefühlsgeschichte soll hier noch einmal neue Funken schlagen. Zugleich kann sie auch der Gesellschaftsgeschichte neue Lichter aufsetzen.

Standard: Warum?

Frevert: Wir wissen, dass die Gesellschaft der Moderne seit etwa 1800 durch Institutionen geprägt ist, die eine unglaubliche Macht auf jeden einzelnen und jede einzelne haben. Das beginnt bei der Familie und endet beim Militär oder beim Sozialstaat. Diese Institutionen haben unterschiedliche emotionale Codes und Rituale entwickelt und erwarten von ihren Mitgliedern unterschiedliches emotionales Verhalten. In diesem Sinne wäre die Gefühlskultur einer Gesellschaft sehr stark dadurch bestimmt, welche Institutionen mit ihren jeweiligen Codes dominieren und wie sich das verändert.

Standard: Gibt es für das 20. Jahrhundert Schlüsselereignisse, die diesbezüglich zu besonders starken Veränderungen geführt haben?

Frevert: Für Deutschland und Österreich war das sicher der sehr stark emotionalisierende und mit Emotionen spielende Nationalsozialismus, der nach 1945 dazu führte, dass Politik ohne Gefühle und Charisma auskommen sollte und nach Möglichkeit rein sachlich und zweckrational zu sein hatte. Diese Erfahrung hat, übrigens auch auf gesellschaftlicher Ebene, zu einer besonders starken Veränderung der Gefühlskultur geführt.

Standard: Sie arbeiten in ihrem Projekt auch mit Nicht-Historikern zusammen. Wie geht es Ihnen mit den Kollegen aus diesen anderen Fächern?

Frevert: Ich habe gerade mit Tania Singer, einer Neurowissenschaftlerin, einen Artikel über Empathie geschrieben. Mein Eindruck ist, dass Kollegen wie sie aus den affektiven Neurowissenschaften sehr aufgeschlossen sind gegenüber dem, was wir in den Kulturwissenschaften machen. Und viele Annahmen, von denen wir und unsere "Ahnherren" in den Kulturwissenschaften ausgehen, können von den Neurowissenschaften nun buchstäblich im Gehirn belegt werden.

Standard: Wie ist es umgekehrt? Sind auch ihre Kollegen aus den Kulturwissenschaften offen genug? Im öffentlichen Diskurs scheint es so, als ob sie von den Neurowissenschaften auch ihrem eigenen Terrain Konkurrenz gekriegt haben?

Frevert: Das Interessante ist, dass viele Neurowissenschaftler das gerade umgekehrt sehen und sich von den Kulturwissenschaftlern in die Ecke gedrängt fühlen. Er gibt im Moment sicher auf beiden Seiten Animositäten und den Eindruck, vom jeweils anderen nicht richtig anerkannt zu werden. Aber ich sehe auch Annäherungen: So können Kulturwissenschaftler sehr viel mit neurowissenschaftlichen Forschungen anfangen, die zeigen, dass die klare Trennung von Emotio und Ratio, die in unserer Kultur eine so große Rolle spielt, in den Operationen unserer Gehirne nicht nachweisbar ist.

Standard: Sie waren bis 2008 auf einem Lehrstuhl in Yale. Wie sehen Sie zurück in Deutschland die Lage der Geisteswissenschaften hüben und drüben im Vergleich?

Frevert: Das gibt es schon große Unterschiede. Ein solches Zentrum, wie ich es nun in Berlin habe, gibt es in den USA nicht. Dort macht im Grunde jeder sein eigenes Ding, und auch die Doktoranden arbeiten völlig eigenständig an ihren Themen. Das ermöglicht freies Denken und individuelle Unabhängigkeit. Andererseits haben die Verbundforschung hier und auch die Graduiertenschulen ebenfalls ihre Vorteile: Man arbeitet nicht so isoliert, taucht sich aus, nimmt Anregungen und Kritik auf.

Standard: Gab es da in den letzten Jahren gerade bei den Graduiertenschulen in den Geisteswissenschaften aber nicht womöglich auch ein zuviel des Guten?

Frevert: Das stimmt, da muss man sicher aufpassen, dass es nicht zu einer "Überproduktion" von gut qualifizierten Doktoranden kommt, die anschließend keine adäquaten Jobs finden. Die Wissenschaft kann sie nicht alle aufnehmen, und es ist auch nicht jeder für eine Uni- oder Forschungskarriere geeignet. Für die besten muss es Postdoc-Möglichkeiten geben, daran wird jetzt gearbeitet. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18.5.2011)