"Mein Mobilitätsbedürfnis unterscheidet sich nicht wesentlich von dem eines 62-jährigen berufstätigen Mannes, der auch in der Innenstadt wohnt", sagt Katja Schechtner.

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Kurt de Swaaf sprach mit ihr über Bedürfnisse, Werte- und Wegesysteme.


Standard: Sie beschäftigen sich unter anderem mit Mobilität in einer alternden Gesellschaft. Wer hier in Wien um sich schaut, sieht viele Senioren, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Ist die bestehende Infrastruktur nicht ohnehin ausreichend?

Schechtner: Sie ist in vielen Bereichen in Wien sehr gut, aber das ist nicht das Thema unserer Forschung. Es geht vielmehr darum, die bestehenden Systeme besser miteinander zu koordinieren und zu nutzen. In Wien werden zurzeit viele neue Bahnhöfe und Verkehrsknoten gebaut, wo es wichtig ist, dass sich alle Nutzergruppen in ihrer eigenen Geschwindigkeit bewegen können und die Information, die sie brauchen, wahrnehmen. Wo sind die Fahrplanauskünfte, wie finde ich meinen Bahnsteig? Ein Beispiel: Man stelle sich vor, man ist mit einem Kinderwagen unterwegs, und während man einen Fahrstuhl sucht, bewegt sich alles um einen herum. Darunter auch Pendler, die jeden Tag denselben Weg gehen und diesen praktisch im Schlaf kennen. Diese Menschen sollte man nicht unbedingt behindern. Man rennt sich oft gegenseitig in den Weg. Diese unterschiedlichen Verkehrsströme zu koordinieren und zu Hauptströmen zu bündeln, das ist unsere Arbeit.

Standard: Wie kann Technik dabei helfen?

Schechtner: Wir konzipieren Simulationsmodelle, um die Funktionsfähigkeit von Verkehrsinfrastruktur im Vorfeld zu testen. Wo stelle ich etwa einen Ticketschalter hin, sodass sich die Warteschlangen nicht mit den Pendlerströmen kreuzen, aber trotzdem gut sichtbar sind? Das lässt sich per Simulation am Rechner klären. Einer der ganz typischen Konflikte ist, wie schnell man sich durch ein Verkehrssystem bewegen muss, kann oder will.

Standard: Was wiederum viele ältere Menschen betrifft.

Schechtner: Unterschiedliche Geschwindigkeiten sind ein großes Thema, aber auch Vertrautheit mit einem Ort und natürlich der Umgang mit Technologie. Wenn ich persönlich mich irgendwo nicht zurechtfinde, dann google ich auf meinem Handy oder nutze ein App. Jemand anderes muss vielleicht fragen, aber besonders ältere Menschen fragen nicht gern. Sie wollen nicht als dumm erscheinen. Wie man das lösen kann, versuchen wir gerade im Projekt Imitate herauszufinden. Da testen wir in einem speziellen Projektionsraum die Effektivität von unterschiedlichen Informationssystemen: von Schildern, Bildschirmen und Handy-Navigation.

Standard: Wie unterscheiden sich die Mobilitätsbedürfnisse älterer Menschen im Vergleich zu jenen der jüngeren Generationen sonst?

Schechtner: Wir unterscheiden eigentlich nicht mehr nach Altersgruppen, sondern nach Nutzungsbedürfnissen. Mein Mobilitätsbedürfnis unterscheidet sich nicht wesentlich von dem eines 62-jährigen berufstätigen Mannes, der auch in der Innenstadt wohnt. Natürlich sind ältere Leute manchmal körperlich mobilitätseingeschränkt, aber das ist ein junger Sportler nach einer Meniskusoperation auch. Und davon gibt es viele.

Standard: Wodurch wird das Verkehrsverhalten noch beeinflusst?

Schechtner: Das Verkehrsverhalten wird ganz wesentlich durch das eigene Wertesystem beeinflusst. Braucht man das Auto als Statussymbol, oder fährt man als sportlicher, dynamischer Mann mit dem Fahrrad zur Arbeit und am Wochenende mit der S-Bahn? Das ist in urbanen Ballungsräumen möglich. Auf dem Land aber ist vieles wieder anders. Dort passiert es, dass man ohne Auto vom sozialen Leben ausgeschlossen ist. Das ist übrigens mit ein Grund, warum immer mehr Menschen in die Städte ziehen. Dort gibt es mehr Alternativen. Auch für diejenigen, die weniger Geld haben. Wir arbeiten jedenfalls nicht an Lösungen für getrennte Alterskohorten. Das wäre genau so absurd, wie getrennte Systeme für Männer und Frauen zu bauen.

Standard: Sie forschen aber auch auf dem Gebiet der genderorientierten Mobilität. Wo liegen hier die Probleme?

Schechtner: In den diversifizierten Wegeketten. Wir leben in einer sich verändernden Gesellschaft. Kinder müssen in der Früh noch immer zum Kindergarten gebracht werden, aber die Mutter muss trotzdem pünktlich zur Besprechung im Ministerium sein. Danach fährt sie ins Büro und trifft später Freunde, während ihr Mann die Kinder abholt und zum Sport bringt. Und das geht heute nicht, wenn die Familie bloß auf ein Auto angewiesen ist. Es muss ein ganzes Verkehrssystem geben, das diesen Bedürfnissen gerecht wird, und bei Verspätungen rechtzeitig Alternativen vorschlägt. Wir am AIT entwickeln die Algorithmen dahinter, die solche komplexe Anwendungen möglich machen. Was Gender betrifft: Traditionell waren Wege von Frauen komplexer und kleinteiliger als die von Männern. Aber wie wir aus unseren Studien sehen, verändern sich solche Klischees. Deshalb entwickeln wir jetzt Verkehrskonzepte, die auf ausdifferenzierte und heterogenere Wege eingehen können. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.6.2011)