Die Stimmen von jungen muslimischen Männern und Frauen werden zu wenig gehört, sagt die Migrations- und Integrationsforscherin Sabine Strasser.

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Standard: Was halten Sie als Sozialanthropologin, die sich seit vielen Jahren mit der Integrationsdebatte beschäftigt, vom Motto von Staatssekretär Sebastian Kurz - "Integration durch Leistung"?

Strasser: Besser gefiele mir die Umkehrung "Leistung durch Integration". Dadurch würde die Leistung der staatlichen Institutionen angesprochen, ein gerechteres Zusammenleben anzustreben. Kurz will mit dem Begriff Integration zwar die gesamte Gesellschaft ansprechen, versteht Leistung aber leider vorwiegend als Bringschuld von Zugewanderten. Das erzeugt natürlich Frustration bei allen, die "Migrationshintergrund" immer wieder als Defizitplakette umgehängt bekommen.

Standard: Laut einer GfK-Studie finden 65 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher, dass Integration nicht funktioniert, 61 Prozent der türkischen Migrantinnen und Migranten fühlen sich eher in der Türkei als in Österreich wohl - was läuft falsch?

Strasser: Wir haben in einer Studie in einer österreichischen Kleinstadt versucht zu verstehen, wie das Verhältnis ist zwischen denen, die sich selbst als "Einheimische" bezeichnen, und denen, die sich selbst als "Türken" bezeichnen. Diese Gruppen leben teilweise seit 40 Jahren miteinander, haben es aber nicht geschafft, sich gegenseitig kennenzulernen. Es ist nicht weiter tragisch, wenn man mit den Nachbarn nicht befreundet ist - das ist in jedem Wiener Zinshaus ohne Zugewanderte auch so. Nachbarschaftliches Nebeneinander funktioniert aber nicht, wenn man nichts voneinander weiß und sich gegenseitig zur Bedrohung der eigenen Kultur oder Lebensweise erklärt.

Standard: Wie wirkt sich das aus?

Strasser: Diskursive Gewalt. Fehlende Erfahrungen werden durch bestimmte feststehende Bilder und Erzählungen ersetzt. Die ständige Darstellung von Männern als Gewalttäter und von Frauen als Opfer rechtfertigt die Ablehnung "der Türken" und hilft den Einheimischen, sich überlegen zu fühlen. Eine junge Österreicherin hat uns eine Szene erzählt, bei der ihr das Nasenbein gebrochen wurde, um zu demonstrieren, wie gewalttätig "die Türken" sind. Am Ende hat sich herausgestellt, dass gar kein Türke an der Gewalthandlung beteiligt war. Migrantinnen kommen oft in eine Zwickmühle von verschiedenen Gewaltformen, wenn sie von Familienmitgliedern kontrolliert und von den Einheimischen als sowieso unterdrückt abgewertet werden.

Standard: Inwieweit treffen Bilder wie das der unterdrückten muslimischen Frau zu?

Strasser: Es gibt Bilder und Diskurse als Gewalt, und es gibt auch sexuelle Gewalt, die oft durch Religion oder Kultur legitimiert wird. Religionen und Kulturen sind nicht per se für Gewalt verantwortlich, sie treten aber immer wieder als Komplizen von Gewalt auf. Es wird in der Debatte um Unterdrückung von Frauen zudem zu selten berücksichtigt, was Frauen, was Jugendliche selbst wollen und denken. Wir haben während unserer Forschung viele junge muslimische Männer und Frauen kennengelernt, die ein sehr großes Interesse daran haben, an der Gesellschaft beteiligt zu werden, sei es kulturell oder politisch. Sie werden dazu zu wenig eingeladen.

Standard: Was denken die Jungen?

Strasser: Zum Beispiel halten es viele junge Männer für notwendig, dass Frauen gleichgestellt werden, selbst entscheiden können. Was weder Männer noch Frauen wollen, die den Islam praktizieren, ist Sexualität vor der Ehe. Das heißt nicht gleich Unterdrückung der Frau. Es sollte akzeptiert werden, dass das eine wichtige Vorstellung ist.

Standard: In dem Buch "Multikulturalismus queer gelesen", das Sie zuletzt mit Elisabeth Holzleithner herausgegeben haben, geht es um Zwangsheirat und gleichgeschlechtliche Ehe. Wo ist der Zusammenhang?

Strasser: Sexuelle Kontrolle und sexuelle Gewalt sind nicht nur bei minorisierten Gruppen relevant, sondern auch in Mehrheitskontexten. Zu der Zeit, als Zwangsverheiratung hochstilisiert wurde, war in Österreich die eingetragene Partnerschaft umstritten - und wir wissen, dass Österreich sehr lange große Probleme mit der Gleichstellung von sexuellen Minderheiten gehabt hat und zum Teil noch hat. Die katholische Kirche hat - wie auch der Islam - immer noch Probleme damit. Wir haben versucht, diese Themen zusammenzuführen, rechtliche Hintergründe und alltägliche Spannungen dazu zu betrachten.

Standard: Ist Multikulturalismus nicht gescheitert, wie vielfach behauptet wird?

Strasser: Wenn man Gewalt und Ausgrenzungen verhindern will, ist es wenig hilfreich, gegen den Multikulturalismus anzuschreien. Es hat infolge der schrillen Debatten zu Zwangsheiraten und nach den Terroranschlägen in Europa Absagen an den Multikulturalismus gehagelt. Multikulturalismus hätte zu Grenzziehungen beigetragen, statt diese zu verhindern. Von mir aus können wir Diversitäts- oder Integrationspolitik sagen, aber ich denke, es geht immer darum, Monokulturalismus, Zwang zur Assimilation und strukturelle Ungleichheiten zu bekämpfen. Das heißt, nicht nur die kulturellen Differenzen zu betonen, sondern gleichzeitig universelle Menschenrechte. Es gibt so vieles, was die Mehrheitsgesellschaft und "die Türken" teilen.

Standard: Was zum Beispiel?

Strasser: Ängste um den Arbeitsplatz und vor Finanzkrisen, Spannungen zwischen den Generationen oder zwischen den Geschlechtern. Und alltägliche Sorgen: Wie wird mit Alkohol umgegangen, wie mit Sexualität, wie lange dürfen Jugendliche ausgehen, wie kommt man zu einer Wohnung und zu einem guten Job? Einheimische und Zugewanderte hätten so viel zu reden. Sie tun es leider oft nicht. (Karin Krichmayr/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7.9.2011)