Dr. Heinz-Jürgen Voß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte
und Ethik der Medizin an der Martin-Luther-Universität in Halle.

Von dem Biologen sind mehrere Publikationen erschienen: u.a. "Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive" im Transcript Verlag 2010 und der Einführungsband "Geschlecht. Wider die Natürlichkeit" im Schmetterling Verlag

 

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Die Einteilung von Menschen in männlich und weiblich hat einen Bart. Zwar ist der noch nicht so lang, wie mensch vermuten würde*, aber doch schon so zottelig, dass es Zeit für ein neues Styling wäre. Das Konzept der "Zweigeschlechtlichkeit" ist zum einen intersexuellen Menschen, die hinsichtlich ihrer Chromosome, Hormone, Keimdrüsen und Geschlechtsorgane nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können, ein Dorn im Auge, zum anderen auch einigen Feministinnen, die in der Polarität der derzeitigen Geschlechterordnung die Ursache ihrer Hierarchisierung entlarvt haben.

Heinz-Jürgen Voß ist Biologe und hat seine Doktorarbeit zur biologischen Geschlechterentwicklung auf soziologische Beine gestellt. Seine These: auch das biologische Geschlecht, also sex, ist in seinen Merkmalen und Bedeutungen gesellschaftlich hervorgebracht. Um seine These zu untermauern hat er sich auf die Erkenntnisse der Geisteswissenschaften gestützt, die schon vor längerer Zeit ideengeschichtlich nachgewiesen haben, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse jeweils stark mit den dominanten Geschlechterbildern der Gesellschaft zusammenhängen. Voß liefert nun den Nachweis für die biologische Vielbeschaffenheit von "Geschlecht": Die Ausformung des Geschlechtstraktes von Menschen ist seiner Meinung nach weder gott-, natur- noch gen-gegeben, sondern individueller Art. Was darunter zu verstehen ist, erklärt der 31-Jährige im dieStandard.at-Interview:

dieStandard.at: Sie sind Biologe und Judith Butler-Fan. Da liegt es doch eigentlich nahe, sich auch noch dem letzten Stück Determinismus in der Geschlechterdebatte, dem biologischen Geschlecht sex, dekonstruktivistisch zu nähern.

Voß: Also mein Zugang ist eigentlich ein anderer. Ich habe zuerst Biologie studiert und bin erst später zu Queer-Theorien gekommen bzw. habe sie getrennt von meinen Studien gesehen. In der Biologie herrschen sehr einfache Geschlechtertheorien vor. Wir haben in der Genetik z.B. von einem schwulen Gen geredet, usw. Es herrscht die Annahme vor, dass komplexe Verhaltensweisen genetisch determiniert seien. Das war mir aber zu einfach. Ich wollte dann aus diesen Beobachtungen heraus ein Forschungsprojekt realisieren, das sich mit der Frage auseinandersetzen sollte, welche Auswirkungen es auf das Forschungsergebnis hat, wenn wissenschaftliche Untersuchungsgruppen gleich im Forschungsdesign – also schon vor Ermittlung der Messdaten - immer schon in weiblich und männlich eingeteilt werden.

dieStandard.at: Sehr interessant. Und was kam dabei heraus?

Voß: Erst einmal, dass es niemand betreuen wollte. Ich habe 12 ProfessorInnen angefragt, ob sie diese Arbeit betreuen wollen und alle haben abgelehnt. Deshalb handelt meine Dissertation jetzt von der gesellschaftlichen Konstruktion des biologischen Geschlechts. Sie ist angesiedelt in der Soziologie mit Zweitbetreuung in der Biologie durch Sigrid Schmitz, die jetzt auch Professorin in Wien ist.

dieStandard.at: Die Kategorie Geschlecht scheint im Forschungsdesign unhintergehbar zu sein.

Voß: Sie ist in der Gesellschaft so dominant, dass sie erstmal nicht hinterfragt wird – das gilt auch für Studierende und später Forschende in der Biologie. Finanzierungsmöglichkeiten spielen auch eine Rolle. Die Forschungslandschaft ist darauf angelegt, dass Studien gut publizieren werden können, die zu signifikanten Unterschieden gelangen. Um erfolgreich zu sein, müssen ForscherInnen also stets an bestehenden Unterteilungs- und Diskriminierungsformen in ihren Arbeiten festhalten.

dieStandard.at: In ihrer Arbeit stellen Sie in Frage, dass es sich bei einer Person, die eine Gebärmutter hat, tatsächlich um eine biologische Frau handelt ...

Voß: Ich mache deutlich, dass die Kategorien Mann und Frau tatsächlich gesellschaftlich hergestellt sind. Das bedeutet, dass die Organe, die geschlechtlich gelesen werden, immer erst in einer gesellschaftlichen Perspektive zu dieser Bedeutung gelangen.

Bis heute gibt es übrigens Bereiche in der Biologie, die mit Annahmen von Gleichheit bzw. Ähnlichkeit der Geschlechter arbeiten – z.B. die Entwicklungsbiologie. Dort geht man davon aus, dass Embryonen erst im Lauf ihrer Entwicklung Differenz hinsichtlich der Geschlechtlichkeit ausbilden. Das bedeutet, dass jede befruchtete Eizelle das Potential hat, sich sowohl weiblich auch als männlich zu entwickeln. Das wird vielfach ausgeblendet.

dieStandard.at: Es stimmt also nicht, dass das Geschlecht eines Menschen durch den Samen des Mannes bestimmt wird?

Voß: Nein, diesen einfachen Gendeterminismus gibt es in diesem Bereich nicht. Die Entwicklungsbiologie geht davon aus, dass die Entstehung des Genitaltraktes nicht festgelegt ist, sondern dass es sich um einen Prozess handelt, in dem bestimmte Gene angeschaltet werden. Sie betont die Prozesshaftigkeit von Genen in Bezug auf ihr Umfeld.
Allgemein lässt sich sagen: Systembiologie hat entgegen einem einfachen Gendeterminismus ganz viele Komponenten der Zelle im Blick. Sie stellt die Frage, wie die einzelnen Zellen untereinander kooperieren und kommunizieren und wie sie im Organismus eingebunden sind.

Ein gutes Beispiel dafür, dass gesellschaftlich geprägt ist, was wir biologisch denken, ist die Gentechnik des 20. Jahrhunderts. Man war permanent darauf erpicht herauszufinden, was denn den Mann so besonders gegenüber der Frau macht, ganz nach der Annahme, dass nur die männliche Entwicklung "aktiv" erfolge, mit mäßigem Erfolg. Erst seit den 1980er Jahren war auch weibliche Entwicklung im Blick. Dieser Androzentrismus wurde feministisch kritisiert – und es zeigt sich hier deutlich, wie gesellschaftliche Vorstellungen Forschungsfragen bestimmen.

dieStandard.at: Aktuelle Forschung wird dann aber doch immer als ideologiefrei gewertet. Reicht es, auf die historischen Widersprüche einer Disziplin wie der Biologie hinzuweisen, um diese Dominanz zu brechen?

Voß: Der Glaube an Geschlechterdifferenz ist sehr breit in der Gesellschaft verankert. Insofern fallen biologische Studien, die Geschlechterdifferenz nachweisen, auf gläubigen Boden. Komplexere Betrachtungen in die Diskussion einzubringen, ist da ungleich schwieriger. Wir wissen z.B. heute, dass nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als Männer identifizierte Menschen weibliche Chromosomen haben können. In der Genetik wurden inzwischen so viele Gene identifiziert, die bei der Entwicklung von Geschlecht beteiligt sein könnten, dass es schwer glaubhaft ist, dass diese sich nur in zwei Richtungen (männlich, weiblich) entwickeln sollen. Die Überlappung von männlichen und weiblichen Entwicklungswegen wird am Gen Dax1, das regelmäßig auf dem X-Chromosom zu finden ist, deutlich. Inzwischen geht man davon aus, dass diesem Gen, auch für die Herausbildung von befruchtungsfähigen Spermien relevant ist.

Auch die Vorstellung, dass z.B. in weiblichen Individuen ein Gen abgelesen (also verwendet) würde und bei den Männern nicht (z.B. das Dax1 Gen), stimmt nicht: Es geht um ein Weniger und Mehr Ablesen und diese Unterschiede zeigen sich eher individuell als geschlechtlich. Innerhalb einer Gruppe – also z.B. in der Gruppe der männlichen Individuen – kann der Unterschied des Ablesens beispielsweise 1000 Prozent betragen. Warum das so ist, interessiert aber in der Biologie nicht weiter. Wenn hingegen ein Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Individuen herausgefunden wird, der viel kleiner ist, wird er aufgrund des ideologisch geprägten Erkenntnisinteresses gleich als wesentlich betrachtet.

dieStandard.at: Wenn sich der Genitaltrakt eines Menschens individuell entwickelt, warum sieht dieser dann beim Großteil der Menschen quer über den Globus gleich aus und hat auch dieselben Funktionen?

Voß: Also, bei den Menschen sehen wir ja gar nicht den Genitaltrakt, sondern meistens nur die Kleidung. Wir denken uns die Genitalien bei als männlich und weiblich identifizierten Menschen einfach dazu. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich, dass diese Merkmale doch nicht so eindeutig sind. Z.B. wissen wir, dass fünf bis 15 Prozent aller Frauen medizinisch behandelt werden, weil sie angeblich zu viele Androgene besitzen, also männliche Geschlechtshormone. Das ist schon eine ganze Menge.

Das gleiche können wir auch über die Fortpflanzung sagen: Über 15 Prozent der fortpflanzungswilligen heterosexuellen Paare in Deutschland suchen medizinische Hilfe, weil sie über einen längeren Zeitraum keinen Fortpflanzungserfolg hatten. Es kann also nicht behauptet werden, es sei 'natürlich', fruchtbar zu sein. Diese Behauptung lässt sich individuell nicht halten. Anders gesagt: Es kann eine Vielfalt an Genitalien ausgebildet werden, ohne dass es hier zu einer Artgefährdung kommen würde. (Die Fragen stellte Ina Freudenschuß, dieStandard.at, 29.9.2011)