"Gendermedizin sollte fix und überall etabliert werden. Dafür ist viel Aufklärungsarbeit nötig." Alexandra Kautzky-Willer

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"Was uns wirklich fehlt, ist Präventionsforschung. Wir wissen in ganz Europa nicht, was das optimale Modell ist." Gert Klima

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"Mediziner sollten sich mehr mit Diabetes auseinandersetzen. Egal, in welcher Fachdisziplin sie tätig sind." Gerlies Bock

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"Diabetes hat jeder 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, ein Leben lang. Er ist immer präsent, auch im Urlaub." Anna Mayer

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Wien - "Ich hatte 30 Jahre lang Diabetes, bevor mich ein Arzt zum ersten Mal gefragt hat, wie es mir mit der Krankheit eigentlich geht", sagt Anna Mayer. Die Dimension der Erkrankung würde erst in den letzten Jahren richtig ernst genommen, der geschlechtsspezifische Ansatz sei überhaupt ganz neu. "Gendermedizin: Ist Diabetes bei Frauen anders?" war die Frage bei einer Standpunkte-Diskussion, zu der DER STANDARD und der Pharmakonzern Novo Nordisk ins Haus der Musik geladen hatten.

Der Genderaspekt ist vor allem bei Typ-1-Diabetikerinnen ein "Riesenthema", bestätigt Mayer, Bundesvorsitzende der Österreichischen Diabetikervereinigung und Landesvorsitzende von Salzburg. Die Stoffwechselexpertin Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gendermedizin an der Med-Uni Wien, sieht in diesem Bereich enormes Potenzial für verbesserte Therapie. Die hormonellen Zyklus-Schwankungen beeinflussen den Blutzucker und damit die Medikamentendosierung erheblich. "Vor der Menstruation haben Frauen meist einen erhöhten Blutzuckerbedarf, und es bedarf einer genauen Anpassung der Insulindosis", sagt die Gendermedizinerin. "Das ist längst nicht mehr nur bei Typ-1-Diabetikerinnen ein wichtiges Thema", beobachtet Gerlies Bock von der Diabetes-Ambulanz der Med-Uni Graz. Frauen, die an Typ-2-Diabetes leiden, früher als Alterszucker bezeichnet, werden immer jünger, immer öfter werden Diagnosen bei Frauen unter 40 Jahren gestellt.

Diabetes zunehmend geschlechtsspezifisch zu betrachten, stellt das medizinische System vor Herausforderungen. So würden Medikamente in den Anfangsstadien fast immer an männlichen und nur selten weiblichen Nagern entwickelt, berichtet Kautzky-Willer und betont, dass geschlechtsspezifische Betrachtung auch in der Forschung erst etabliert werden müsste. Wichtig wäre auch, dass PatientInnendaten nicht nur geschlechtsspezifisch aufgenommen, sondern auch getrennt analysiert würden, denn nur so würden etwaige unterschiedliche Reaktionen auf Medikamente transparent. "Die Initiative, das zu ändern, müsste politisch motiviert sein", sagt Kautzky-Willer.

Diabetes und Schwangerschaft

Ein zentrales Thema und Forschungsschwerpunkte beider Ärztinnen ist Schwangerschaftsdiabetes. "Es ist derzeit nicht eindeutig geregelt, wohin sich Schwangere wenden sollen", sagt Gerlies Bock und plädiert für eine Betreuung von SpezialistInnen. Einig war sich das Podium, dass Diabetes vor allem auch ein soziales Problem sei und bildungsferne Risikogruppen meist keinerlei Risikobewusstsein haben. "Diabetes tut nicht weh und wird deshalb nicht ernst genommen", sagt Mayer. Gert Klima, Geschaftsführer des Gesundheitsfonds Steiermark, weiß, dass man durch die Schwangerenbetreuung aber auch Zugang zu Migrantinnen bekommt. "Wir brauchen Mediziner mit entsprechenden Sprachkenntnissen und mehr Frauen als Behandlerinnen, denn viele Migrantinnen lassen sich von Männern nicht untersuchen." Migrantinnen leiden statistisch betrachtet besonders häufig an Typ-2-Diabetes und gehen selten zum Arzt.

"Es gibt keine andere Krankheit, bei der Patientinnen so viel zum guten Verlauf beitragen können", betont Mayer. Ihr geht es um Empowerment und die Stärkung der Eigenverantwortung von Betroffenen. Disease-Management als systematisches Behandlungsprogramm für chronische Krankheiten sei der richtige Weg, war man sich einig. Problem dabei ist die Beteiligung der Hausärzte/Hausärztinnen: "Es machen noch zu wenige mit", sagt Klima. "Wir wissen: Ein Diabetiker geht durchschnittlich 25-mal im Jahr zum Hausarzt." Die Vernetzung würde die Situation verbessern. Der praktische Arzt müsste sich in den "Basics der Diabetologie" so gut auskennen, dass er versteht, wann er eine Spezialistin/einen Spezialisten hinzuziehen muss. Kautzky-Willer stimmt zu, gibt aber zu bedenken: "Zu verlangen, was einem zusteht, ist für Diabetikerinnen besonders wichtig." Wenn etwa die Untersuchung der Füße, die jedes Jahr vorgesehen ist, nicht stattfindet, müssten Frauen darauf bestehen - leider seien Diabetikerinnen oft zu zurückhaltend. Auch in der Vorsorgeuntersuchung sei die Geschlechterspezifik wichtig. Hier werde lediglich der Nüchternblutzucker gemessen, "bei Frauen ist der oft normal und steigt dann nach dem Essen auf über 200", so Kautzky-Willer und appelliert hier an die Behörden, den oralen Glukosetoleranztest in die Vorsorge aufzunehmen.

Kombination: Diabetes und Essstörung

Das große Thema bleibt für die Zukunft allerdings die Prävention. "Man muss sich bemühen, so niederschwellig wie möglich an die Leute heranzukommen", sagt Mayer. Schließlich wurde aber auch die psychische Dimension diskutiert: "Diabetes hat viel mit Belastung zu tun", oft gehen Zuckerkrankheit, Übergewicht und Depression Hand in Hand, betont Kautzky-Willer. "Diabetes und Essstörungen sind eine sehr häufige Kombination", berichtet Bock. Die psychologische Unterstützung sollte auch hinsichtlich der Behandlung von Depression verstärkt werden.

Die Zukunft

Was sich die Diskutantinnen für die Zukunft wünschen: "Immuninterventionen, für Typ-1-Diabetikern als Alternative zur Insulintherapie", sagt Bock. Kautzky-Willer will "Gendermedizin fix etabliert sehen". So sei etwa noch nicht erforscht, warum bei Frauen das Schlaganfall- und Herzinfarkt-Risiko viel höher ist. Gefordert sei eine "personalisierte Medizin", frauenspezifisch. Mayer stimmt zu und betont, dass "das Allerwichtigste jedoch immer die individuelle Lebensqualität ist". (Julia Grillmayr, DER STANDARD, Printausgabe 14.11.2011)