"Ziel drei, die Gleichstellung der Geschlechter, hat den größten Multiplizierungseffekt. Die Einbeziehung der Frauen wird uns den größten Fortschritt bringen." UN-Diplomat Thomas Stelzer.

Foto: Heribert Corn

Vier Jahre bleiben, um die Millennium-Entwicklungsziele zu erreichen. UN-Diplomat Thomas Stelzer erklärt beim World Summit Multimedia Festival in Graz, welche Ziele wackeln und weshalb die Gleichstellung von Frauen die größte Wirkung hätte.

dieStandard.at: Herr Stelzer, Sie sind beigeordneter UN-Generalsekretär für Politikkoordination bei der UNO und dort maßgeblich für den Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zuständig. Sind Sie der Chef-Implementierer der Millennium Entwicklungsziele (MDGs)?

Thomas Stelzer: Ich koordiniere die vielen Prozesse, die die Implementierung beschleunigen. Die Implementierer der MDGs sind unsere Mitgliedstaaten. Die Vereinten Nationen helfen ihnen, die MDGs umzusetzen. Wir schauen uns an, was funktioniert hat und funktionieren könnte. Wir definieren Strategien, die wir den Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen.

dieStandard.at: Der World Summit Youth Award ehrt junge Menschen, die mit Internet und Apps die MDGs umsetzen wollen. Ist das nicht naiv, angesichts der Schwierigkeiten, die Regierungen und UN damit haben?

Stelzer: Es ist wichtig, um unsere Politiker darauf aufmerksam zu machen, wozu sie sich verpflichtet haben. Es ist gerade das Engagement der Jugend, was wir brauchen. Die Zivilbevölkerung denkt langfristiger als die Politik, die nur an ihre Legislaturperioden gebunden ist. Deswegen finde ich das Jugendengagement besonders wichtig.

dieStandard.at: Laut dem MDG-Gap Task Force Report 2011 halten die Staaten ihre Zusagen nicht ein. Können die Entwicklungsziele bis 2015 erreicht werden?

Stelzer: Alle acht MDGs sind erreichbar, wir haben schon große Fortschritte gemacht. Ziel Nummer eins, die Halbierung extremer Armut jener Menschen, die von 1,25 US-Dollar pro Tag leben müssen, werden wir erfüllen. Große Fortschritte gibt es auch bei Ziel sieben, dem Zugang zu sauberem Wasser.

dieStandard.at: Die Vereinten Nationen investieren seit Jahren in die Stärkung von Frauen. Trotzdem sind immer noch 75 Prozent der Analphabeten weiblich. Was muss sich ändern?

Stelzer: Es gibt keine Strategie, die wir auf alle Fälle anwenden können. Wir müssen jedes Land einzeln betrachten. Die UNO hat daher eine Frauenorganisation gegründet, UN Woman. Sie führt die gesamte Frauenproblematik zusammen und hilft unseren Stakeholdern, ihre eigenen Interessen zu erkennen. Die Gleichstellung von Frauen liegt in unser aller Interesse. Mit UN Women können wir das ganz gezielt angehen.

dieStandard.at: Frauen sind doppelt gebeutelt: Sie sind wirtschaftlich schlechter gestellt und während der Schwangerschaft besonders verletzlich. Deswegen sehen die MDGs neben der Gleichstellung der Geschlechter auch die Gesundheitsversorgung von Müttern vor. Wie steht es um die Ziele drei und fünf?

Stelzer: Ziel drei, die Gleichstellung der Geschlechter, hat den größten Multiplizierungseffekt. Wenn wir das erreichen, werden wir die größte Wirkung bei allen anderen MDGs haben. Die Einbeziehung der Frauen wird uns den größten Fortschritt bringen.

dieStandard.at: Weshalb?

Stelzer: Schauen Sie sich Ziel Nummer eins an, bei dem es auch um nachhaltige Landwirtschaft geht. 80 Prozent aller landwirtschaftlichen Arbeiten leisten Frauen. Beim Zugang zu Bildung spielen Frauen eine große Rolle, auch bei der Wasserfrage und bei der Kindersterblichkeit. In Südostasien kommen 20 Prozent der Kinder mit weniger als 2000 Gramm zur Welt, weil die Mütter selbst schlecht ernährt sind. Wenn es den Müttern besser geht, wirkt sich das direkt auf die Kindersterblichkeit aus. Die Frauen stehen bei jedem der acht MDGs im Zentrum.

dieStandard.at: Werden Ziele drei und fünf bis 2015 erreicht?

Stelzer: Das Bild ist nicht einheitlich. Wir haben Staaten wie Ruanda, das als einziges Land der Welt mehr Frauen als Männer im Parlament versammelt. Gleichstellung ist möglich, wenn man darauf hinwirkt. Ziel fünf, die Muttersterblichkeit, ist eine Tragödie. Der mangelhafte Fortschritt hier beschämt uns. Heute gebären eine halbe Million Frauen in afrikanischen Ländern südlich der Sahara ohne Hebammen und die Hilfe von ausgebildetem Personal. Das ist inakzeptabel, weil wir diese Not mit Leichtigkeit lindern könnten, wenn wir nur politisch wollten.

dieStandard.at: Müttersterblichkeit ist eine Frage des politischen Willens?

Stelzer: Es ist immer eine Frage des politischen Willens. Politiker müssen die Bedingungen schaffen, in denen die Ziele, die im UNO-Rahmen entstehen, umgesetzt werden können. Es gibt aber eine Kluft zwischen versprechen und erfüllen. Wenn alle OECD-Staaten ihre Zusagen einhalten und 0,7 Prozent des Volksvermögens investieren würden, hätten wir genug Geld, um alle MDGs umzusetzen.

dieStandard.at: Die Geschichte der Entwicklungshilfe zeigt, dass Staaten nie zuverlässig gezahlt haben. Ist es nicht eine Fehlkonstruktion, die Erreichung der MDGs überwiegend von Transfergeldern abhängig zu machen?

Stelzer: Wir gehen davon aus, dass Staaten tun, was sie versprechen. Sie haben versprochen, ihre Entwicklungszusammenarbeit bis 2015 auf 0,7 Prozent anzuheben. Bislang tun das nur fünf Staaten. Das ist nicht Sinn und Zweck. Aber es gibt diese Beispiele und alle anderen Länder haben noch vier Jahre Zeit, es auch zu tun. Wenn sie zahlen, werden wir die Ziele erreichen, denn wir haben die Strategien und den politischen Willen. Wir sehen Fortschritt, wo wir zusammenarbeiten. Sollten die Versprechungen nicht erfüllt werden, wird die Umsetzung der MDGs bis 2015 nur sehr unvollständig gelingen.

(Die Fragen stellte Anna Gauto, dieStandard.at 15.11.2011)