"In Ägypten möchte niemand darüber sprechen, dass Frauen sexuelle Gewalt erfahren", sagt Harassmap.org-Mitgründerin Heba Habib. Diese digitale Karte beweist allerdings, dass sexuelle Belästigung Alltag ist.

Foto: Miler/World Summit Youth Award

Heba Habib nimmt den World Summit Youth Award am 13. November in Graz entgegen.

Foto: Miler/World Summit Youth Award

Die ägyptische online-Plattform Harassmap.org nutzt Crowdsourcing gegen sexuelle Übergriffe. Die 22-jährige Mitgründerin Heba Habib erklärt im Interview, warum eine Anzeige bei der Polizei wie Roulette spielen ist, was sich für Frauen nach dem Sturz Hosni Mubaraks geändert hat und warum junge Menschen mit dem Internet mehr bewirken können als Regierungen und Vereinte Nationen.

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dieStandard.at: Frau Habib, warum wurde Harassmap.org gegründet?

Heba Habib: Weil sexuelle Belästigung in Ägypten alltäglich ist und trotzdem nicht viel dagegen unternommen wird. 

dieStandard.at: Sexuelle Belästigung ist ein weiter Begriff, was verstehen Sie darunter?

Habib: Ich verstehe darunter jede Form von Grenzüberschreitung ohne Zustimmung der betroffenen Person. Das kann von obszönen Gesten oder Worten bis zu Anfassen oder Vergewaltigung reichen.

dieStandard.at: Auf Harassmap.org können Frauen Übergriffe per Email, SMS oder Telefon melden. Eine digitale Landkarte visualisiert die Vorfälle. Wie überprüfen Sie, ob die Meldungen wahr sind?

Habib: Wir können das nicht überprüfen. Aber was hätte man davon, sexuelle Übergriffe einfach so zu melden?

dieStandard.at: Man könnte jemanden dadurch schaden.

Habib: Das können wir nahezu ausschließen. Die betroffenen Frauen nennen in den seltensten Fällen Namen. Meist geht es um Fremde, die sich etwa vor verschleierten Frauen auf offener Straße entblößen.

dieStandard.at: Wozu die digitale Karte?

Habib: In Ägypten möchte niemand darüber sprechen, dass Frauen sexuelle Gewalt erfahren. Das Thema ist ein Tabu. Eine Frau die sexuell belästigt wird, muss schreien "Hilfe, meine Halskette wird gestohlen", damit überhaupt jemand eingreift. Die Karte ist ein starker visueller Beweis dafür, dass es sexuelle Belästigung gibt. Überall, rund um die Uhr. Wenn wir Aufklärungsarbeit im Feld machen, verwenden wir die Karte, um die Leute davon zu überzeugen, dass wir ein echtes Problem haben.

dieStandard.at: Was passiert, wenn eine Vergewaltigung auf Harassmap.org gemeldet wird?

Habib: Wir kümmern uns um die Frauen, bieten juristische oder psychologische Unterstützung an.

dieStandard.at: Sie melden solche Fälle nicht der Polizei?

Habib: Das ist kompliziert. Die Polizei geht sexuellen Übergriffen nur in den seltensten Fällen nach. 2008 wurde eine missbrauchte Frau erst aus dem Polizeirevier und dann aus dem Land gejagt, weil sie ihr Recht einklagen wollte. In unserer Gesellschaft ist immer die Frau Schuld.

dieStandard.at: Auch wenn sie vergewaltigt wird?

Habib: Es ist wie beim Roulette. Wenn Du es mit einem guten Polizisten zu tun hast, unternimmt er etwas. Es kann aber genauso gut sein, dass er Dir unterstellt, Du hättest die Vergewaltigung durch Deine Kleidung provoziert. Wir versuchen trotzdem, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Es gab auch schon Gespräche, etwa mit dem Kommunikationsminister, der uns sehr zugetan war. Mittlerweile ist er aber wieder aus dem Kabinett rotiert.

dieStandard.at: Hat sich nach der Entmachtung von Staatspräsident Hosni Mubaraks etwas an der Situation der Frauen geändert?

Habib: In den 18 Tagen während der Revolution und kurz danach gab es so gut wie gar keine sexuelle Belästigung. Die Menschen hatten andere Dinge im Kopf als den Alltag. Frauen sexuell zu belästigen, ist in Ägypten Alltag. Das war eine wertvolle Erfahrung für uns.

dieStandard.at: Inwiefern?

Habib: Wir haben gesehen, wie ein Ägypten ohne sexuelle Übergriffe aussehen kann. Wir haben verstanden, dass wir die Nutzercommunity von Harassmap.org weiter ausbauen müssen, um für Frauenrechte mehr Rückhalt in der Gesellschaft zu bekommen. Was wir tun, ist wichtig. Aber wir wissen auch, dass wir den nächsten Schritt machen müssen.

dieStandard.at: Wie wird der aussehen?

Habib: Sobald wir eine Regierung haben, werden wir das Gespräch suchen. Wir brauchen die Polizei. Wir hoffen, dass sie unsere Seite nutzen wird, um sexuellen Übergriffen nachzugehen. Noch wichtiger ist aber, mit den Menschen in den Städten und Dörfern persönlich zu sprechen, aufzuklären. Wir versuchen zu vermitteln, was sexuelle Gewalt ist und wie sie darauf reagieren sollten.

dieStandard.at: Gibt es Frauen, die besonders gefährdet sind, Opfer sexueller Gewalt zu werden?

Habib: Nein, es kann jede treffen. Kürzlich sagte mir eine 60-jährige Frau, "ich werde immer noch belästigt, was läuft bloß falsch?"

dieStandard.at: Sie haben mit Harassmap.org kürzlich den internationalen World Summit Youth Award gewonnen, der digitale Projekte auszeichnet, die die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen unterstützen. Weshalb können jungen Menschen mit dem Internet möglicherweise mehr erreichen, als Regierungen und UN?

Habib: Weil sie nur ihren jeweiligen Communities gegenüber verantwortlich und dadurch effektiver sind. Ich respektiere die Vereinten Nationen. Aber sie bestehen nun einmal aus Staaten mit eigenen Interessen. Es dauert unglaublich lang, bis politische Ziele, wie die Gleichstellung der Geschlechter, erreicht sind. Wir hingegen können Harassmap.org einfach so auf die Beine stellen, ohne verhandeln zu müssen oder uns zu fragen, was unsere Wähler davon halten. (Anna Gauto/dieStandard.at, 22.11.2011)