Bild nicht mehr verfügbar.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am Freitag in Brüssel: Eine "Schuldenbremse" solle in den Mitgliedsländern Verfassungsrang erhalten.

Foto: AP/Yves Logghe

Sex ohne Kondom wird in Lissabon schon für 20 Euro angeboten. Mit diesem Beispiel schilderte die Wissenschaftlerin Aline Santos Ende November in Porto die drastischen Auswirkungen der portugiesischen Sparpolitik. In Portugal rutschen seit der Wirtschaftskrise und der daraus folgenden rigiden Sparpolitik immer mehr Frauen in die Armut und daraufhin in die Prostitution, um ihre Familien ernähren zu können. Jenseits des Atlantiks steigen seit 2008/2009 die Delogierungen rasant in die Höhe. Nachdem Menschen ihre Jobs verlieren und dadurch ausstehende Kredite nicht mehr bedienen können, füllen sich die Campingplätze an den Speckgürteln der US-amerikanischen Großstädte. Auch in Wien haben Delogierungen im Vergleich zum Vorjahr um drei Prozent zugenommen, gibt etwa die Volkshilfe bekannt. Wenn nun neue Sparmaßnahmen in den EU-Ländern eingeführt werden, um "ausgeglichene Budgets" vorweisen zu können, werden soziale Probleme wie diese zwangsläufig steigen.

Den Zwang zum Sparen haben sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union schon beim Vertrag von Maastricht 1992 auferlegt - durch den damals formulierten Stabilitätspakt wurden die Mitgliedsstaaten, die den Euro als Währung einführen wollen, aufgefordert, ihre Defizite und Verschuldungen zu begrenzen. Was damals niemand wissen konnte oder wollte, war die unermessliche Steigerung der Verschuldung der Euro-Länder durch die andauernde Systemkrise des Finanzmarktes und des Wirtschaftssystems. Und diese rief auch den Internationalen Währungsfonds (IWF) auf den Plan.

Ökonomischer Offenbarungseid

Den ökonomischen Offenbarungseid leistete dabei der griechische Ex-Ministerpräsident Giorgos Papandreou, indem er Hilfe der anderen EU-Mitgliedstaaten beantragte. Das bereits vor Ort befindliche Personal des IWF übernahm daraufhin im Land die wirtschafts- und sozialpolitischen Zügel. Nach Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen war Griechenland damit das sechste Land in Europa in den letzten Jahren, dessen Politik wesentlich von der Washingtoner Finanzorganisation gestaltet wurde, und das erste innerhalb der Euro-Zone.

In den 1970er und 1980er Jahren konnte von Europa aus auf anderen Kontinenten beobachtet werden, wie dort die neokonservative Agenda des IWF durchgesetzt wurde und welche Folgen damit verbunden waren. Die Ökonomin Elisabeth Klatzer von feministATTAC hat diese Szenarien "mit Schrecken" verfolgt, wie sie gegenüber dieStandard.at betont. "Jetzt kommt diese neoliberale Agenda näher zu uns. Das ist Teil der gleichen Strategie und diese 'Religion' durchdringt inzwischen alle Institutionen".

Dem IWF war sein erstes Engagement in der Euro-Zone viel wert: die Washingtoner änderten dafür ihre Geschäftsgrundlage, um die erlaubte Kreditgröße auszudehnen. Nach dieser nämlich soll eine Kreditvergabe über drei Jahre hinweg nicht höher liegen, als die sechsfache IWF-Quote* des jeweiligen Landes. Im Falle von Griechenland wäre das bei einer Quote von 1,24 Milliarden US-Dollar 7,5 Milliarden - der derzeitige IWF-Kredit für Griechenland liegt weit über dem 30-fachen dieser Summe. Die Auflagen für IWF-Kredite blieben hingegen die gleichen wie in den 70er-Jahren: Griechenland muss privatisieren, deregulieren und gravierende Kürzungen der Staatsausgaben vornehmen.

Sozialer Kahlschlag

In der Zwischenzeit müssen auch die Staatskanzleien in Madrid, Lissabon, Rom und London Strukturmaßnahmen verkünden, wie sie klassisch für den IWF sind. Unter dem Kommando der US-amerikanisch dominierten Finanzorganisation heißt das: Erhöhung von Massensteuern, längere Arbeitszeiten, Entlassung von StaatsbeamtInnen, Kürzung von Löhnen und Renten - kurz: sozialer Kahlschlag. "Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Eurozone von Freitag geht ja noch einmal ein Stück weiter. Sie fordert einen ausgeglichenen Haushalt, der in der Verfassung verankert werden soll", so Elisabeth Klatzer, wiewohl sie zu bedenken gibt, dass die Krise in Europa hausgemacht ist.

Ganz im Sinne des IWF führt ein radikales Sparprogramm, wie es die EU vorsieht, nicht nur zu einer wirtschaftlichen Rezession, wie viele ExpertInnen monieren, sondern hat auch wesentliche Auswirkungen auf Frauen. Einerseits, so Klatzer, "profitieren Frauen von ausgleichenden Tätigkeiten des Staates, seien es Dienstleistungen wie Kinderbetreuung oder durch das Steuersystem. Andererseits sind besonders Frauen vom Abbau öffentlicher Beschäftigung stark betroffen". Dies führt zu einer doppelten Benachteiligung: Zum einen verlieren die Frauen ihre Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, zum anderen ist der öffentliche Sektor jener, wo die Einkommensschere geringer ist als in anderen Sektoren. Klatzer erwartet zudem "viel schlechtere Bedingungen für Frauen am Arbeitsmarkt. Durch prekäre Beschäftigungen und Teilzeit-Stellen haben Frauen ohnehin eine Puffer-Funktion, die sich durch die anstehenden Sparzwänge weiter verschärfen wird".

Radikaler Demokratieabbau

Besonders wesentlich jedoch erscheint die Frage der politischen Partizipation von Frauen, die historisch betrachtet in jeder Wirtschaftskrise weiter unterminiert wurde. "In den letzten Monaten zeigte sich massiv, dass innerhalb der EU ein radikaler Demokratieabbau betrieben wird", beobachtet die Ökonomin. Die sogenannte EU-Wirtschaftsregierung stärkt die Finanzbürokratie - sowohl auf der Ebene der Kommission als auch auf nationalstaatlicher Ebene in den Finanzministerien. Elisabeth Klatzer sieht das durchwegs problematisch: "Das sind traditionell maskulin dominierte Bürokratien, die sehr intransparent arbeiten. Da ändert auch Maria Fekter als Finanzministerin nichts daran." Sie hält das Einsetzen der Fiskalunion für einen autoritären Umbau innerhalb der EU, der intransparent und undemokratisch sei. Die wenigen Partizipationsmöglichkeiten von Frauen auf nationalstaatlicher- aber auch auf EU-Ebene würden weiter ausgehebelt. "Wir haben es mit einem massiven maskulinen Umbau Europas zu tun".

Von Hayeks Ziele und Wünsche

Unterdessen erklärt Bundeskanzler Werner Faymann weiter, dass er die Schuldenbremse zum Verfassungsgesetz machen möchte, nachdem er vorerst daran gescheitert ist. Diese Schuldenbremse, wie sie in einigen Ländern Europas bereits Verfassungsrang hat, entspricht einer neoliberalen Finanz- und Wirtschaftspolitik, die die Gestaltung von Politik abstrakten Sparzwängen unterwerfen möchte.

Mit der Schuldenbremse tritt ein Mechanismus in Kraft, der den Wünschen und Zielen des neoliberalen Friedrich August von Hayek nahe kommt. Zum einen wird ein wesentlicher Bereich demokratischer Entscheidungsmacht preisgegeben, indem dies ohne Legitimation der Bevölkerung zustande kommt. Zum anderen werden Bund und Länder durch eine solche Schuldenbremse gezwungen, ab einer bestimmten Grenze keine neuen Kredite aufzunehmen. "Den maskulinen Finanzinstitutionen schwebt vor, dass es zu Automatismen der Entscheidungsfindung kommt. Im Wesentlichen sind das sehenden Auges Vertragsbrüche", urteilt Klatzer. "Es ist ein Durchpeitschen eines Autoritätsprogrammes sondergleichen, ebenso ein massiver Umbau der Entscheidungsfindung, von denen Frauen ausgeschlossener sind denn je". Neben den demokratietheoretischen Bedenken, stellt die Schuldenbremse auch ein Instrument im Verteilungskampf dar.

Kein Interesse am Wohl der Menschen

Mit der Fiskalunion wird ein Sachzwang in die Welt gesetzt, der die Finanzpolitik qua Verfassung zu weiterem Staats- und Sozialabbau zwingt. Sie nötigt die Mitgliedsländer zu einer restriktiven Ausgabenpolitik - genauso wie es sich die Washingtoner Finanzorganisation wünscht. Sozialpolitik oder gar Umverteilung von oben nach unten wird dadurch quasi verunmöglicht. Auch die OECD hat erst kürzlich bei der Veröffentlichung neuer Zahlen darauf hingewiesen, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinanderklafft. Dem OECD-Befund, dass die zunehmende Ungleichheit den sozialen Zusammenhalt gefährdet und politische Instabilität schafft, schließt sich auch der Volkshilfe-Präsident Josef Weidenholzer an.

Aber wird es in Mitteleuropa zu Szenarien wie in Portugal, den USA oder Griechenland kommen? "Die europäischen Eliten, die derzeit das Sagen haben, haben keinerlei Interesse, das Wohl der Menschen zu fördern. Das oberste Zehntel gewinnt. Das ist Interessenspolitik zugunsten einiger weniger. Und daher: Leider Ja, meine Befürchtung ist, dass sich die soziale Krise weiter verschlechtert - in Bezug der Frauen geradezu verschärfen wird", so Klatzer.

Alternativen diskutieren

"Wenn man gesehen hat, mit welcher Mischung aus Repression und Diffamierung dem Widerstand der Betroffenen in Athen begegnet wurde, kann man das Ausmaß der aktuellen Strukturkrise erahnen", gibt Klatzer zu verstehen. Was also tun, um derartiges zu verhindern? Die Ökonomin von feministATTAC plädiert einerseits für eine europaweite Steuerharmonisierung etwa im Bereich der Unternehmensbesteuerung. Vor allem aber müsse die Staatsfinanzierung von den Finanzmärkten entkoppelt und durch die EZB finanziert werden. Außerdem würde eine Finanztransaktionssteuer die Staatseinnahmen deutlich verbessern. "All diese Initiativen werden aber auf die lange Bank geschoben", kritisiert Klatzer. Dass PolitikerInnen dabei immer wieder von "Alternativlosigkeit" sprechen, verhindere Diskussionen über alternative Lösungen der Strukturkrise, so die Ökonomin abschließend. (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at 11.12.2011)