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Auch in den patriarchalen Gesellschaften Südosteuropas formiert sich weiblicher Widerstand gegen das Verharmlosen von Sexualdelikten und die Praxis, Vergewaltigungsopfer zu Schuldigen zu machen: "Marsch der Schlampen" in Bukarest.

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Jelena Kulidzan hat mit diesem Beitrag den zweiten Preis des diesjährigen Balkan Fellowship for Journalistic Excellence gewonnen.

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Podgorica/Belgrad/London - Ljubomir Kotlica ist ein verurteilter Vergewaltiger aus Nikšić in Montenegro. Er wird bald ein freier Mann sein, weil seine zweijährige Gefängnisstrafe dem Ende zugeht. Kotlica hat die Freundin seines Freundes vergewaltigt. Sie hatte am 12. Dezember 2002 ihren Bus verpasst. Statt sie jedoch nach Hause zu bringen, fuhr Kotlica sie zu einem nahen Steinbruch und zwang sie zum Sex. Nicht nur dauerte es sieben Jahre, bis der Fall entschieden wurde - das Urteil liegt auch noch gerade einmal über dem Minimum, das Vergewaltigern nach montenegrinischem Recht droht.

Niemand kann sich daran erinnern, wann ein montenegrinisches Gericht das letzte Mal einen Vergewaltiger zur Höchststrafe von 15 Jahren verurteilt hat. Sicherlich hat es innerhalb der letzten fünf Jahre keine/n einzige/n RichterIn gegeben, die/der die härtestmögliche Strafe verhängte; die RichterInnen haben jedoch bei drei verschiedenen Anlässen Urteile von sechs Monaten verkündet. Im Schnitt werden Vergewaltiger in Montenegro nur zwei Jahre und acht Monate eingesperrt. Folglich wirkt es so, als ob Vergewaltigungsverbrechen tatsächlich auf das Niveau eines Diebstahls herabgestuft wurden. In vielen Fällen, so sagen AnwältInnen, sitzen Diebe länger im Gefängnis als Vergewaltiger.

Prävention verfehlt

"Die Praxis der montenegrinischen Vergewaltigungsurteile, wie ich sie sehe, ist unangemessen und inkonsequent. Zunächst verfehlt sie ihr Hauptziel - die Prävention. Sie schreckt potenzielle Vergewaltiger nicht ab", sagt Velimir Rakoèević, Professor für Kriminologie an der Universität von Montenegro. Er meint, dass milde Urteile das Verbrechen trivialisieren und nichts dahingehend bewirken, das öffentliche Bewusstsein für das Verbrechen zu erhöhen oder die moralischen Werte der Gesellschaft zu verbessern.

"Die verkündeten Urteile, die ich gesehen habe, waren so lächerlich, dass ich verwundert war. Was sind schon zwei Jahre und acht Monate? Das ist nichts im Vergleich zu dem zerstörten Leben des Opfers", sagt Ljiljana Raièević, Direktorin des Frauenhauses in der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica.

Die meisten AnklägerInnen und RichterInnen jedoch finden nichts Falsches an der montenegrinischen Urteilspraxis. "Trotz des niedrigen Prozentsatzes an Urteilen, die an das Durchschnittsniveau des gesetzlichen Strafrahmens heranreichen, glauben wir, dass die Strafpraxis für dieses Verbrechen ausreichend und angemessen ist", sagt Veljko Rutović, ein Ankläger der Staatsanwaltschaft. Wenigstens fällten RichterInnen jetzt keine Urteile mehr, in denen gemeinnützige Arbeit für Vergewaltiger vorgesehen ist, was früher durchaus üblich war.

Dragica Vuković, Richterin am Hohen Gericht von Podgorica, glaubt, die Urteile, die sie und ihre KollegInnen verhängen, seien keineswegs unangemessen milde. "Jeder Fall ist anders. Wir beurteilen die mildernden Umstände, wie zum Beispiel die finanzielle Situation [soziale Situation] des Täters, seinen familiären Hintergrund, sein Alter und seine Haltung gegenüber dem Opfer nach der Tat."

Montenegro hat keine eigens ausgebildeten RichterInnen, AnklägerInnen und PolizeibeamtInnen, die an Vergewaltigungsfällen arbeiten, was oft als Grund für milde Urteile angeführt wird. "Es dürfen nicht nur Rechtsexperten sein, die sich mit Vergewaltigungsfällen befassen, sondern wir brauchen einen interdisziplinären Ansatz. Die Personen in unserem Justizwesen brauchen eine breiter angelegte Ausbildung, damit sie wissen, wie man Vergewaltigungsopfer behandelt und sie davor schützt, eine zweite Opferschikane [vor Gericht] zu durchleben", sagt Rakoèević.

Manche glauben, dass Montenegros Urteilspraxis in Vergewaltigungsfällen teilweise dadurch erklärt werden kann, dass das Land nach wie vor eine sehr patriarchalische Gesellschaft ist. "In außergewöhnlich patriarchalischen Gesellschaften wie Montenegro ist die Frau stets eine Bürgerin zweiter Klasse. Die Männer dominieren als Alphatiere, und die Gesellschaft ist damit einverstanden, deren gewalttätiges Verhalten zu akzeptieren", sagt Goran Velimirović, ein Anwalt und ehemaliger Richter.

Beweislast beim Opfer

Milde Urteile sind nicht das einzige Problem. Vergewaltigungsopfer in Montenegro müssen beweisen, dass sie mit Gewalt zum Sex gezwungen wurden, in der Erwartung, dass man physische Narben und Verletzungen sehen kann, die beweisen, dass es zu einem Kampf kam. "Das Justizsystem erwartet etwas, das es absolut nicht tun sollte - nämlich, dass sich das Opfer bis zum Schluss der Vergewaltigung widersetzt ... das ist inakzeptabel. Wir sollten vom Fehlen der Einwilligung ausgehen", sagt Rakoèević.

Vor nicht allzu langer Zeit ging man davon aus, dass allein das Tragen eines kurzen Rockes oder das Trinken von Alkohol die Aufforderung zum Sex war. Die Polizei führt dies routinemäßig als ausreichende Gründe an, um an der Wahrhaftigkeit der Beschwerde des Opfers zu zweifeln.

Frauenrechtlerinnen sagen, die Dinge hätten sich seitdem gebessert, aber Frauen haben immer noch wenig Vertrauen, dass das System sie fair und human behandeln wird. "Wir haben vor 16 Jahren [mit misshandelten Frauen] zu arbeiten begonnen, und seitdem hat sich die Haltung diverser Institutionen gegenüber Opfern sexueller und häuslicher Gewalt zum Besseren verändert. Jedoch gibt es in manchen Teilen des Systems immer noch Leute, die starke Vorurteile gegenüber Vergewaltigungsopfern hegen", sagt Aida Petrović von der Nichtregierungsorganisation Montenegrin Women's Lobby.

Nur fünf Frauen im ganzen Land haben 2010 bei der Polizei angezeigt, dass sie vergewaltigt wurden. Das öffentliche Bewusstsein bleibt schwach, und es hat bis heute keinen öffentlichen Aufschrei gegen die Vergewaltigungs- und Urteilspraxis gegeben.

Im Gegensatz dazu sind Vergewaltigungsurteile im benachbarten Serbien zum Gegenstand öffentlicher Diskussion geworden. Aber die Urteile selbst stehen auf derselben Stufe wie in Montenegro. 2009 wurde Serbiens Strafgesetzbuch erweitert und legt nun härtere Strafen für Vergewaltiger fest.

Im Anschluss an den vielbeachteten Fall eines Serienvergewaltigers, der gefasst wurde, nachdem er fünf Frauen geschändet hatte, wurde 2009 eine Facebook-Kampagne initiiert, die längere Haftstrafen für Vergewaltiger forderte. Auch ein führender serbischer Kriminologe schlägt Alarm. "Es ist unfassbar, dass unsere Gerichte sich der Tatsache nicht bewusst sind, dass Vergewaltigen ein Symptom einer schweren psychischen Störung ist und dass milde Urteile die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung erhöhen", sagt der pensionierte Kriminalpsychologe Dobrivoje Radovanović.

Den bekannten Erklärungen für die milden Urteile - patriarchale Gesellschaft, Gesetzeslücken, soziales Stigma - fügt er Liste noch einen Faktor hinzu: "Die Existenz mildernder Umstände bietet eine gute Gelegenheit zur Korruption. Ein erfahrener Verteidiger wird auf mildernden Umständen bestehen und es schaffen, den Richter zu bestechen, damit dieser das Mindestmaß verhängt."

Innerhalb der EU schwankt die Urteilspraxis sehr stark. In Großbritannien etwa fallen die Urteile härter aus. Vergewaltiger erhalten im Schnitt acht Jahre Haft. Großbritannien hat auch große Fortschritte im Umgang mit Vergewaltigungsopfern gemacht, vom Moment der Anzeige bis zum Gerichtsprozess selbst.

Geschulte PolizistInnen

"Die beste Verbesserung ist, dass nun ganze Polizeistationen damit befasst sind, sich um Sexualgewalt zu kümmern. Beamte werden speziell ausgebildet, um zu verstehen, was es bedeutet, Überlebende eines Sexualübergriffs zu sein, deren emotionalen Zustand, sodass sie nun dazu in der Lage sind, mit ihnen auf menschlichere Weise zu sprechen", sagt Yvonne Traynor, Hauptgeschäftsführerin von Rape Crisis South London.

Die EU-Kommission verlangt inzwischen eine neue, unionsweite Gesetzgebung, um Rechte und Schutz von Verbrechensopfern zu stärken. In Montenegro, das sich auf den EU-Beitritt vorbereitet, werden die meisten Reformen durch Druck aus Brüssel angestoßen. Dass Podgorica seine Vergewaltigungsjustiz aus eigenen Stücken ändert, scheint unwahrscheinlich. Damit das geschieht, müssen sich Frauen in Montenegro - einschließlich der Opfer - die Last selbst aufbürden und für ihre Rechte kämpfen, so wie es ihre Mitstreiterinnen in Großbritannien getan haben. (Jelena Kulidzan/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.12.2011)