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Die Frau umgarnt den Mann, aber der Mann führt. Mit dem gewandelten Rollenbild lässt sich der Tango inzwischen allerdings auch ganz anders interpretieren.

Foto: AP/dapd/Natacha Pisarenko

Latinas sind rassig, heißblütig und gehorsam - so glaubt die Männerwelt von Buenos Aires bis Vancouver, von Havanna bis Tokio. Und sie haben ihr Pendant im hypermaskulinen, selbstverliebten Macho. Stereotype, die sich hartnäckig halten. Doch auch in Lateinamerika währt nichts ewig. Das größte Land des Kontinents, Brasilien, wird von einer Präsidentin regiert, und in den Familien zwischen Rio Bravo und Feuerland stellen die Frauen neue Regeln auf. Eine der letzten Bastionen des Männlichkeitskults ist ins Wanken geraten.

Nach zwölf Jahren Ehe und vier Kindern witterte Dora Estela Rivas aus Nicaragua eine Zukunft jenseits von Herd und Heim: Mit knapp 30 Jahren begann sie ein Jus-Studium. Finanziell kein Problem, da ihr Mann ein erfolgreicher Holzhändler war; um die Kinder kümmerten sich nach Schule und Kindergarten Angestellte.

Doch Rivas hatte eines nicht berücksichtigt: den Machismo. Eine Frau, die selbst Geld verdienen, in der Berufswelt ihren Weg machen will - das passte nicht ins Weltbild ihres Gatten. Er spionierte ihr nach, schlug sie, hetzte die Kinder und die Familie gegen sie auf.

Dem klassischen Skript zufolge hätte Rivas klein beigeben müssen. Doch sie verpasste ihrem Mann kurzerhand den Laufpass, zog aus, studierte weiter und ist nun eine erfolgreiche Anwältin und Verteidigerin von Frauenrechten. "Von allein werden die Männer keinen Deut nachgeben", hat die 47-Jährige festgestellt. "Wir Frauen müssen sie zwingen und den Mund aufmachen." 40 Jahre nach der Frauenbewegung in Europa geschieht das auch in Lateinamerika immer häufiger.

Angefangen hat der Wandel an den Universitäten. Vor sieben Jahrzehnten durften Frauen weder an die Unis, geschweige denn wählen. Heute studieren in Lateinamerika genauso viele Mädchen wie Burschen. Entsprechend drastisch ist die Geburtenrate gesunken, in Mexiko etwa von 5,7 im Jahr 1976 auf aktuell zwei Kinder pro Frau. Die katholische Sexualmoral ist in Lateinamerika längst nicht mehr dominant.

Besser als Europa

Geholfen bei der Emanzipation haben die Quotenregelungen, die sich in den 1990er-Jahren ausbreiteten. Durch sie hat sich der Frauenanteil in den Parlamenten seit 1995 von zehn auf 22 Prozent erhöht; Lateinamerika steht damit im Schnitt besser da als Europa.

In den Kabinetten hat sich in 15 Staaten der Anteil an Ministerinnen in nur drei Legislaturperioden verdoppelt, von 12,8 auf 27 Prozent - ganz ohne Quote. In den Bürgerbewegungen und in der Kommunalpolitik sind Frauen ebenfalls auf dem Vormarsch.

2011 war es ausgerechnet eine Studentin, die dem chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera das Regieren vermieste: die charismatische, attraktive Camila Vallejo, die sich an die Spitze der Massenproteste gegen die geplante Bildungsreform stellte und soeben zur "Persönlichkeit des Jahres" in ihrem Heimatland gekürt wurde.

Gerade in Chile, einem extrem konservativ-katholischen Land, in dem bis vor kurzem weder Scheidung noch die Pille danach erlaubt waren, ging der Umbruch besonders rasant vonstatten. Großen Anteil daran hatte natürlich eine Frau: Michelle Bachelet, Präsidentin von 2006 bis 2010 und nun Chefin der neuen UN-Organisation UN-Woman. Während ihrer Amtszeit richtete sie Kinderkrippen ein und schuf eine Hausfrauenrente. Sie war so beliebt wie kein männlicher Präsident vor - und bisher auch nach - ihr.

Ihren Platz am lateinamerikanischen Politikerinnenhimmel hat vor einem Jahr eine andere übernommen: Dilma Rousseff, Präsidentin des größten lateinamerikanischen Landes und der siebtgrößten Wirtschaftsmacht weltweit. Die Brasilianerin war die erste Frau, die eine UN-Generalversammlung eröffnete - im vergangenen September. Forbes führt sie auf Platz 16 der einflussreichsten Persönlichkeiten weltweit.

Aber nicht nur international wird die 64-Jährige hofiert, auch intern hat sie ihren KritikerInnen gezeigt, wer die Hosen anhat. Ihr erstes Amtsjahr verbrachte sie vor allem damit, den Augiasstall der Korruption auszumisten. Eine Mammutaufgabe, an die sich keiner ihrer männlichen Vorgänger gewagt hat. Sechs Minister mussten bereits gehen.

Kein schmückendes Beiwerk

In Argentinien wurde gerade Cristina Fernández de Kirchner mit absoluter Mehrheit wiedergewählt; in Peru, El Salvador, der Dominikanischen Republik, Guatemala und Nicaragua sind die First Ladies kein schmückendes Beiwerk, sondern starke Persönlichkeiten mit eigenen politischen Vorstellungen - und Machtambitionen. In Nicaragua hat Präsidentengattin Rosario Murillo so viele Frauen wie nie zuvor auf die Parlamentsliste setzen lassen, und in Bachelets und Rousseffs Kabinetten saßen und sitzen mehr Ministerinnen denn je.

Selbst in der Hochburg der Machos, Mexiko, greift eine Frau nach der Macht. Die Konservative Josefina Vázquez Mota hat dabei - im Gegensatz zu Bachelet, Rousseff und Kirchner - keinen Mentor, der sie vom Präsidentenamt aus unterstützt. Dennoch liegt sie in Umfragen weit vorn - auch in Mexiko ist die Bevölkerungs- und Wählermehrheit weiblich.

Und was halten die Männer vom Vormarsch der Latinas? Die hinkten der Entwicklung hinterher und hielten noch immer am Modell des starken Versorgers fest, so der argentinische Sozialpsychologe Hugo Huberman. Wenn sie mehr im Haushalt zur Hand gingen oder ihren Frauen mehr Freiheiten zugestünden, dann nur auf Drängen der Frauen, nicht aus Überzeugung. "Die Männer sind Opfer eines kulturellen Wandels, den sie bis heute nicht wirklich verstanden haben und für den ihnen niemand die nötigen Werkzeuge in die Hand gibt", sagt die mexikanische Journalistin Lydia Cacho. "Und diese latente Überforderung äußert sich in Gewalt." Die steigende Zahl der Frauenmorde in Lateinamerika hat nach Auffassung der Autorin des Buchs "Sklaven der Macht" diesen unverstandenen Kulturumbruch zum Hintergrund. (Sandra Weiss aus Puebla/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10.1.2012)