Irene Brickner, "Schwarzbuch Menschenrechte", Residenz-Verlag 2012

Foto: Cover "Schwarzbuch Menschenrechte"/Residenz-Verlag

Ariana (Name geändert) hat sich Österreich nicht ausgesucht - sondern Österreich sie. Sie wurde im Rahmen einer internationalen Mission der OSZE hier hergeholt, im Jahr 2000: eine 16-Jährige aus dem heutigen M., ein Opfer von Kinderprostitution und Mädchenhandel, die sich in akuter Lebensgefahr befand. Dennoch hat Ariana zwölf Jahre danach in Österreich weder Aufenthaltssicherheit noch Zukunftsperspektive. Weil die humanitäre Selbstverpflichtung der Republik einen Haken hatte. Dem Mädchen wurde die Zuflucht unter der Bedingung des Wohlverhaltens gewährt. Das aber verfehlte es: Zweimal wurde Ariana wegen Betrugs rechtskräftig verurteilt.

Das Aufenthalts- und Niederlassungsgesetz verlangt, dass Fremde, die in Österreich bleiben wollen, keine Vorstrafen aufweisen dürfen: eine klare Bestimmung. Aber kann man das von einem Menschen verlangen, den die Republik freiwillig aufgenommen hat, wissend, dass dieser Mensch von klein auf Willkür ausgesetzt war und nie gelernt hat, richtig von falsch zu unterscheiden? Diese Frage betrifft die strengen "Fremden"-Gesetze, aber auch die Verpflichtungen eines modernen Rechtsstaats.

Vom Vater "vermietet"

Wer der heute 28-Jährigen gegenübersitzt, sieht eine hübsche Person mit dunkelbraunen Augen. Eine schlanke, vollbusige Frau in engem Top und Minirock, die in ihrem Caffè Latte rührt und sich gefällig im Spiegel gegenüber betrachtet: "Alles Natur!", kommentiert sie und lacht. Das ist Arianas helle Seite, die starke, alltagsfitte. Ihre andere, schwer verletzte Seite wird aus Arztbefunden sichtbar. PsychiaterInnen schildern Arianas Depressionen, ihre Ängste, verfolgt zu werden. Etliche Male war sie auf der Psychiatrie: Die Ärzte diagnostizierten eine Persönlichkeitsstörung als Folge traumatischer Erlebnisse. Worin diese Erfahrungen bestanden, schildert Ariana nur in Bruchstücken: "Ich bin in einem Keller aufgewachsen, habe niemand gehabt außer einer älteren Frau, die alle paar Tage gekommen ist. Manchmal waren andere Kinder dort, von den Prostituierten. Ich habe gesehen, wie Kinder getötet wurden. Wegen des Organhandels, damit hatte meine Familie zu tun." Besagter Keller gehörte zu einem Haus, in dem sich ein Bordell befand. Mit fünf Jahren sei Ariana von ihrem eigenen Vater "vermietet" worden, in einen westeuropäischen Staat, steht in einem Schreiben des Wiener Jugendamts aus 2001.

Wer die Erwachsenen waren, die ein Kind zu Sexzwecken durch Europa schickten, ist einem Mail-Verkehr aus 2001 zu entnehmen: "Wir haben keinen Zweifel, dass die lokale Mafia in den ,Verkauf' dieses Mädchens involviert war", schreibt ein OSZE-Entsandter mit dem Decknamen "Stanislaw" an Eva Kaufmann von der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (Lefö/IBF) in Wien. In seiner Mail warnt er: "Sollten wir versuchen, über die Mafiafamilien weitere Informationen einzuholen, riskiert sowohl das OSZE-Team als auch die Familie des Mädchens ihr Leben."

Die Mafia hatte Ariana bis zu ihrem 16. Lebensjahr in der Gewalt. Zwar floh sie mit 13 aus dem ersten westeuropäischen Bordell. Doch in einem Bordell befand sie sich erneut, als sie in W. drei Jahre später, am 22. Juni 2000, durch multinationale Polizeikräfte aufgegriffen wurde. "Sie stand offensichtlich unter Drogeneinfluss und war vergewaltigt worden. Sie identifizierte die Täter. In der Folge wurden auf sie Schüsse abgegeben", steht in besagtem Jugendamtsschreiben.

Das Mädchen musste aus W. weg, ohne Pass- und Visum, die man beantragen muss und die die Mafia auf ihre Spur bringen konnte. "Wir haben mehrfach Frauen, die als Opfer des Menschenhandels gefährdet waren, mit OSZE-Hilfe in andere Staaten gebracht", bestätigt Helga Konrad, ehemalige Frauenministerin der SPÖ und von 2000 bis 2004 Vorsitzende der Anti-Trafficking Force in der OSZE. Das Innenministerium in Wien habe dies unterstützt, trotz mangelhafter Gesetzeslage.

So bekam Österreich für die humanitäre Rettung Arianas den Zuschlag - und sie eine Überlebenschance. Ende Juli 2000 wurde sie unter falschem Namen nach Wien gebracht. Doch diese gute Tat hatte einen Haken: "Ob ich nach Österreich wollte, hat mich keiner gefragt", sagt Ariana. Österreich hatte für sie keine wirklich passenden Angebote. Sie wurde in einer geschützten Wohnung der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels (Lefö/IBF) in Wien untergebracht. Sie habe dort nicht hingepasst, schildert Grace Latigo, eine Betreuerin. Kaufmann sieht das anders: "Wir nehmen Frauen ab 16 auf. Ich kann mich an keine Probleme erinnern."

Weiblicher "Kaspar Hauser"

Und da waren die Demarchen bei den Fremdenbehörden, die Ariana nur befristete Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen gewährten. Jedes Jahr Bittgänge, lange Episteln von Eva Kaufmann an die zuständigen Behörden. Mit solch Unsicherheiten kann eine Traumatisierte, eine Art weiblicher "Kaspar Hauser", schwer umgehen. Wäre Ariana eine Opernsängerin - im Interesse der Republik wäre Entgegenkommen bis hin zur Einbürgerung möglich.

2004 lernte Ariana einen Mann kennen, der Liebe mit Ausbeutung verband. Mit einer Bankomatkarte beging sie Betrug. Er nahm das Geld, sie fasste sechs Monate bedingt aus. "Wir bitten, die Traumatisierung unserer Klientin zu berücksichtigen", wandte sich Betreuerin Kaufmann im Mai 2004 an den für die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung zuständigen Referenten.

Wohin sollte man sie schicken?

Dieser ließ Gnade vor Recht gehen: Die Bewilligung wurde erteilt. Bis 2008, der zweiten Straffälligkeit: Ariana nahm Geld für die Vermietung einer Wohnung, die nicht vermietet werden konnte. U-Haft, Gerichtsverhandlung, 15 Monate teilbedingt wegen Betrugs. Sie bekam keine Aufenthaltsverlängerung mehr. Am 26. März 2009 wurde über Ariana ein sechsjähriges Aufenthaltsverbot (inzwischen wieder aufgehoben) ausgesprochen.

Wohin sollte man sie schicken? Ins Land ihrer Geburt, wo Gefahr durch die Mafia besteht? In das Land, wo sie als Kind zwangsprostituiert wurde? Ariana sollte nicht hier bleiben, aber weggebracht werden konnte sie auch nicht: eine kafkaeske Situation.

Was tun? Ariana würde anderswo Verfolgung drohen. Am 16. Dezember 2009 brachte sie einen Asylantrag ein. Politisches Asyl wird nicht erteilt, wenn sich Antragstellende eines "Verbrechens" schuldig gemacht haben. Und: Ariana sieht den Sinn des Verfahrens nicht ein. "Ich will kein Asyl, ich will Gerechtigkeit!", sagt sie.

Außer-Sich-Sein

In Phasen des Außer-Sich-Seins neigt sie zu überstürzten Handlungen. Am 9. August 2010 rief sie im Bundesasylamt an: Sie werde jetzt nach W. zurückkehren. Nur viel Zureden konnte die Verfahrenseinstellung abwenden. Man müsse die junge Frau vor sich selbst schützen, meinten Rechtsberaterin und BetreuerInnen. Am 7. November 2011 wurde über sie im Bezirksgericht Favoriten eine Sachwalterschaft im Asylverfahren ausgesprochen. Für Ariana ein Eingriff in ihre Selbstbestimmung. Im Asylverfahren ist inzwischen eine scheinbar ausweglose Situation entstanden. Das Bundesasylamt hat ihren Antrag abgelehnt und eine "Duldung" ausgesprochen: ein Status ohne Arbeitsbewilligung und Zugang zu Sozialleistungen, aber mit ständiger Ausweisungsgefahr. Ist eine solche "Lösung" mit den Mindestnormen bei der Anerkennung von Flüchtlingen und anderen Schutzsuchenden vereinbar? Diese Frage macht Arianas Fall zu einem Fall für ganz Europa: Die Rechtsberaterin hat angeregt, der Asylgerichtshof möge die Causa vom Europäischen Gerichtshof prüfen lassen. Das kann Jahre dauern, Jahre der Unsicherheit für Ariana. Zwölf Jahre ist sie jetzt in Österreich. Ausgesucht hat sie sich das nicht. Man wollte ihr Gutes tun, das hat sie in eine Sackgasse geführt. Dabei wäre bei lösungsorientierter Großzügigkeit hier keine Präzedenzwirkung zu befürchten: Im "Fall Ariana" ist es nie um Einwanderung gegangen, sondern um eine Selbstverpflichtung Österreichs. (Irene Brickner, DER STANDARD, 18./19.2.2012)