"Menschen für Menschen"-Vorsitzende Almaz Böhm verbringt mehrere Monate pro Jahr in Äthiopien: "Wenn man etwas verändern will, muss man bei der Wurzel beginnen. Wir wussten von Anfang an, dass FGM ein sehr heikles Thema ist, aber auch, dass wir als NGO es den Leuten nicht einfach verbieten oder sie für diese Praktiken verurteilen dürfen. Das ist ein völlig falscher Ansatz."

Foto: Josef Fischnaller/Menschen für Menschen

"Das Thema Beschneidung war für alle unantastbar, niemand wollte dieses Tabu brechen und sich die Finger verbrennen."

Foto: Josef Fischnaller/Menschen für Menschen

Es gibt in Äthiopien eine lange Liste registrierter schädlicher Traditionen. Genitalverstümmelung, kurz FGM (Female Genital Mutilation), ist eine davon. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind in Äthiopien etwa 75 Prozent der Frauen beschnitten.

Der Verein "Menschen für Menschen" kämpft seit über zehn Jahren gegen die Verstümmelung von Mädchen in dem nordostafrikanischen Land. In Ostäthiopien, wo die NGO mit ihrer Aufklärungsarbeit begonnen hat, ist Mädchenbeschneidung die schlimmste Tradition, die akzeptiert wird, auch wenn sie von keiner Religion vorgeschrieben ist. Dort wird auch die Form der Beschneidung mit den schlimmsten Folgen, die Infibulation, praktiziert. Dabei werden die großen Schamlippen beschnitten und die Vagina anschließend zugenäht.

Im Interview mit dieStandard.at spricht Almaz Böhm, Vorsitzende von "Menschen für Menschen" und gebürtige Äthiopierin, über kulturelle und religiöse Hintergründe der Beschneidung, den Aufklärungsansatz, den die NGO in Äthiopien vertritt, die Frage, wie die Bevölkerung auf die Bemühungen im Kampf gegen FGM reagiert und warum sie nichts von Ersatzritualen hält.

dieStandard.at: Aus welchem Grund werden Frauen in Äthiopien beschnitten?

Böhm: Einerseits gilt es seit jeher als Pflicht einer Mutter, ihre Tochter beschneiden zu lassen, damit sie als Frau in der Gesellschaft anerkannt wird. Aber erst unter dem Deckmantel der Religion, die die Beschneidung der Mädchen verpflichtend vorschreibt, konnte diese Praxis in der Bevölkerung so stark verankert werden.

Andererseits gilt sie hier auch als wichtiges Ritual zur Vorbereitung für die Heirat: Um zu garantieren, dass der Ehemann der erste Mann ist, mit dem eine Frau schläft, muss sie beschnitten und vernäht werden, das ist für den Mann die Bestätigung ihrer Jungfräulichkeit. Die Menschen tun etwas Schlimmes im Glauben, etwas Gutes zu tun, denn nicht beschnittene Frauen riskieren, sozial ausgegrenzt zu werden und ohne Ehemann zu bleiben.

Es gibt viele Begründungen, keine lässt sich jedoch in Schriftform bestätigen, alles wurde mündlich überliefert. Nachdem der Großteil der Frauen, die den Hauptteil der Bevölkerung ausmachen, nicht lesen oder schreiben kann, können sie den Männern aber auch nicht widersprechen.

dieStandard.at: Wie schafft man es, dass einem die Menschen bei der Aufklärungsarbeit zuhören, wenn das Thema so stark in ihrer Tradition und ihrem Glauben verankert ist?

Böhm: Wir haben da vielleicht einen Vorsprung, denn "Menschen für Menschen" genießt durch die jahrzehntelange Arbeit meines Mannes Karlheinz Böhm großes Vertrauen in der Bevölkerung. Es hat ihn sehr erschüttert, als er ein neunjähriges Mädchen, das Epileptikerin war und das er gut kannte, nach der Beschneidung Anfälle erlitt, wodurch die Wunde wieder aufriss und sie später an den Folgen einer Infektion starb.

Mein Mann hat daraufhin das Thema FGM in verschiedensten Kreisen immer wieder angesprochen, um herauszufinden, wie die Menschen darüber denken, und im Jahr 1998 eine breit angelegte Offensive gegen FGM in Äthiopien gestartet. Eine engagierte Gemeindesprecherin war eine der ersten Frauen, die mit uns zusammenarbeiteten. Sie hatte davor noch nie darüber nachgedacht, dass die Beschneidung den Mädchen mehr schaden als nutzen könnte. Sie sagte zu meinem Mann: "Wenn du hinter mir stehst, werde ich mit meinen Freundinnen und Nachbarinnen darüber sprechen." Sie hat zunächst viel Widerspruch geerntet, aber auch viele Menschen überzeugen können, offen über ihre Erfahrungen und Gedanken zur Beschneidung zu sprechen.

dieStandard.at: Mit welcher Einstellung ist "Menschen für Menschen" an die Arbeit herangegangen?

Böhm: Wenn man etwas verändern will, muss man bei der Wurzel beginnen: Die Menschen vor Ort müssen selbst etwas ändern, nicht wir ihnen sagen, wie schlecht sie sind und was sie falsch machen. Wir wussten von Anfang an, dass FGM ein sehr heikles Thema ist, aber auch, dass wir als NGO es den Leuten nicht einfach verbieten oder sie für diese Praktiken verurteilen dürfen. Das ist ein völlig falscher Ansatz.

Es arbeiten für uns auch nur Einheimische vor Ort. Die Menschen müssen die Zusammenhänge verstehen und was mit den oft jahrhundertealten Traditionen erreicht oder nicht erreicht worden ist. Man muss den Menschen Zeit geben zu verstehen. Verbote haben bei uns keinen Platz, sondern Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung.

dieStandard.at: Was waren die ersten Schritte, die Sie als NGO gegen FGM gesetzt haben?

Böhm: Das Wichtigste war zunächst, Genitalbeschneidung offen anzusprechen: damit es kein Tabu mehr ist, damit die Menschen miteinander darüber reden, FGM in Frage stellen und sich auch trauen, Fragen zu stellen.

Einschneidenden Erfolg ernteten wir durch eine von uns initiierte Plattform, bei der erstmals Fachleute aus den verschiedensten mit FGM in Verbindung stehenden Fachbereichen vor Ort in einem zweiwöchigen Workshop zusammenkamen, um zu diskutieren: Religionsführer, äthiopisch-orthodox und muslimisch, juristische Experten, Lehrerinnen und Lehrer, Gesundheitsfachleute, Frauen- wie Männervertreter, Sozialarbeiter, Dorfälteste und Jugendvertreter. Es war die erste direkte Konfrontation mit dem Thema, die zum Nachdenken angeregt hat. Diese Verbindung, dass jemand beschnitten wird und dann ein paar Tage nachher stirbt, dass es so etwas wie eine Infektion gibt, das wusste niemand.

dieStandard.at: Konnte ein Konsens gefunden werden?

Böhm: Es wurde zwei Wochen lang heftigst debattiert und die religiösen Führer ließen überall nachfragen, ob es tatsächlich keinen Nachweis für die Beschneidung in den religiösen Schriften gibt. Nach diesen zwei Wochen haben alle Beteiligten des Workshops dazu gestanden, dass die Beschneidung Tradition ist und keine religiöse Pflicht.

In der Folge haben wir eine Großveranstaltung mit großer Medienbeteiligung organisiert. Dort wurde zum ersten Mal in der Geschichte Äthiopiens öffentlich kundgetan, dass die Beschneidung eine schlechte Tradition ist, die nichts mit Religion zu tun hat. Zum ersten Mal haben sich ein orthodoxer Priester und ein Imam dazu vor dem Mikrofon geäußert. Das war ein unglaubliches Bild.

Eine Frau aus der Zuschauermenge hat den Imam gefragt: "Warum habt ihr uns das früher niemals gesagt?" Darauf antwortete er richtig: "Ihr habt uns auch nie gefragt."

dieStandard.at: Wie haben denn Männer, vor allem Familienväter, darauf reagiert?

Böhm: Bis dahin hatten sich die Männer sehr aus dem Thema herausgehalten, weil  Kindererziehung und das Ritual der Beschneidung nur Frauen betrifft. Sie wussten auch nicht genau, was da gemacht wird, nur, dass die Frau damit für sie vorbereitet wird. Es war nie eine Diskussion wert, bis es die Workshops und Gesprächsrunden quer durch alle Gesellschaftsschichten gab.

Die Männer erfahren dort, wie sehr die Frauen leiden, welche Gefahr für ihre Gesundheit dadurch besteht, besonders wenn das Ritual an Puppen oder in Dokumentationsfilmen bildhaft demonstriert wird. Die Betroffenheit, die bei den Männern zu beobachten ist, ist sehr positiv, weil ihnen bewusst wird, was Frauen dabei erleiden.

Die meisten Frauen und Männer in den Dörfern erfahren auch zum ersten Mal, dass es das Menschenrecht jedes Kindes ist, unversehrt zu bleiben, und dass es strafbar ist, sie zu verletzen. Sie waren überzeugt: Wenn Allah oder Gott will, dass wir das tun, dann kann er sie doch nicht daran sterben lassen.

dieStandard.at: Werden nicht viele Mädchen trotz Aufklärung noch heimlich beschnitten?

Böhm: Gerade in den Dörfern haben sich die Gemeinden eigene Kontrollorgane organisiert. Die Kontrolle geschieht auf verschiedenen Wegen, die man sich hier vielleicht kaum vorstellen kann. Die Frauen vor Ort haben mir erklärt, dass Sitzungen und Gespräche im Freien unter Bäumen geführt werden. Rundherum stehen die Kinder und bekommen alles mit, was gesprochen wird. Sie sind wie Antennen und erzählen überall weiter, was sie hören und beobachten. Sie alarmieren die anderen, wenn ein Kind woanders hingebracht wird - die Eltern dieses Kindes werden gewarnt, dass sie ihr Kind, wenn sie zurückkommen, vom Gemeindekomitee kontrollieren lassen müssen, ob es nicht beschnitten ist.

Ich möchte betonen: Mütter in Afrika lieben ihre Kinder genauso heiß und innig wie europäische Mütter. Man darf nicht glauben, dass sie ihre Töchter aus Hass beschneiden lassen oder um ihnen Schaden zuzufügen. Es ist schwer zu verstehen, aber die Eltern tun das aus Liebe - aus religiöser Pflicht und um ihren Töchtern Anerkennung in der Gesellschaft zu garantieren.

dieStandard.at: Welche Rolle spielt die Schule bei der Aufklärung der Kinder?

Böhm: In jeder Schule, die wir bauen, haben wir Klubs - gegen schädliche Traditionen, gegen HIV/Aids und so weiter. Die Mädchen und Buben dieser Klubs sind unsere besten Botschafter, um das Wissen in die Bevölkerung zu tragen, weil sie ihre Art von Sprache sprechen. Das Thema wird auch permanent in Schulveranstaltungen, Versammlungen, Aufführungen oder durch das Schreiben von Gedichten aufgearbeitet.

Und es geht Eltern nichts mehr unter die Haut, als wenn ihr Kind sie anfleht: "Bitte lass mich so, wie ich bin. Mama, bitte lass mich nicht bluten."

Ganz wichtig ist auch, dass Buben jetzt sagen können: "Nein, wir heiraten nur unbeschnittene Mädchen!" Und Mädchen wissen nun über FGM Bescheid und haben in der Schule eine Stelle, wo sie sich hinwenden können, wenn ihnen Beschneidung droht. Die Lehrer sind dahingehend sehr aufmerksam.

dieStandard.at: Wenn es Frauen gibt, die zwar die negativen Folgen erkennen, aber Beschneidung dennoch als ihre Pflicht sehen: Gibt es zu diesem Ritual in Äthiopien Alternativen oder kann man zum Beispiel die Beschneidung im Krankenhaus durchführen lassen?

Böhm: Wir halten nichts von Alternativen und Ersatzritualen. In Äthiopien arbeiten wir daran, dass die Frau so, wie sie geboren wird, als Mensch akzeptiert wird. FGM muss abgeschafft werden und es darf keine Alternative geben, die an diese schädlichen Rituale aus der Vergangenheit erinnern, damit sie in einigen Generationen gar nicht mehr in den Köpfen sind.

dieStandard.at: Wie stehen Beschneiderinnen, die gleichzeitig oft auch Hebammen sind, der Aufklärungsarbeit gegenüber?

Böhm: Sie sind Vorreiterinnen in der Unterstützung unserer Projekte. Die meisten sagen, sie hätten gedacht, etwas Gutes zu tun, und nun gesehen, welchen Schaden sie unwissend den Frauen zugefügt haben. Sie haben davor die Verbindung zwischen dem Ritual und gesundheitlichen Folgeschäden nicht erkannt und ihren Beruf nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Ehre ausgeübt, oft als Familienerbe und gelernte Tradition. Für viele ist es ein einschneidendes Erlebnis, wenn sie nun den Unterschied einer Geburt bei einer unbeschnittenen Frau im Vergleich zu einer beschnittenen Frau sehen.

dieStandard.at: Wenn sie nicht auch Hebammen sind, in welchen Berufen arbeiten sie weiter, wenn sie das Beschneiden aufgeben?

Böhm: Viele ehemalige Beschneiderinnen sind auch Bäuerinnen und wollen auch weiterhin als Bäuerin arbeiten. Wir haben aber auch Hebammen-Kurse als berufliche Alternative oder Weiterbildung angeboten, weil es nicht genug Hebammen gibt. Sie können aber auch unsere anderen Angebote für Frauen, wie etwa das Mikrokreditprogramm, in Anspruch nehmen.

dieStandard.at: Welchen Eindruck haben Sie von dem Bild von FGM, das in westlichen Ländern vermittelt wird? Wie sehen Sie den Diskurs darüber?

Böhm: Es gibt so viele Vorurteile hier, über den Hintergrund ist meist wenig bekannt und es gibt wenig Verständnis für die Situation der Menschen vor Ort. Wenn wir mit Vorurteilen nach Äthiopien gegangen wären, wären wir mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen. (Isabella Lechner, dieStandard.at, 4.3.2012)