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Waris Dirie bei der Präsentation der Kampagne "Stop FGM now".

Foto: EPA/Michael Hanschke

Spätestens mit dem autobiografischen Roman "Wüstenblume" (1998) ist das Thema Genitalbeschneidung in Europa angekommen. Darin beschreibt Waris Dirie, wie ihr durch die in Somalia verbreitete Praxis als Fünfjährige die Genitalien verstümmelt wurden - unter Aufsicht ihrer eigenen Mutter. Als 13-Jährige sollte sie verheiratet werden, worauf sie nach Mogadischu floh, später weiter nach London, wo sie in einem Fast-Food-Restaurant von einem Fotografen entdeckt wurde und als Model Starruhm erlangte. Diese Berühmtheit nutzte Dirie schließlich, um auf FGM (Female Genital Mutilation) international aufmerksam zu machen.

Seit den 1990ern haben die Initiativen von NGOs und Politik gegen FGM mehr und mehr zugenommen. Ziel vieler Kampagnen ist Aufklärung und in letzter Konsequenz ein Ende dieser Praxis, an deren Folgen laut dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF weltweit 155 Millionen Frauen leiden. Diese enorme Zahl macht deutlich, dass Genitalbeschneidung nicht nur afrikanische Länder betreffen kann, auch wenn die Hauptverbreitungsgebiete in Afrika liegen, etwa in Ägypten, Guinea, Mali, Somalia und Sierra Leone. In Europa sind laut Schätzungen etwa 500.000 Frauen betroffen, FGM kann somit als globales Phänomen betrachtet werden.

Ohne Beschluss

Über FGM aufklären, sie als Gewalt gegen Frauen deklarieren und so schnell wie möglich abschaffen: Dass dieser international dominante Ansatz viele Fragen offen lässt, zeigte erst im März die jährliche UN-Sitzung zu Frauenrechten. In diesem Jahr ging die Sitzung erstmals seit ihrem Bestehen ohne Abschlussdokument zu Ende (dieStandard.at berichtete). Schuld daran war neben dem Streitpunkt reproduktive Rechte auch das auf den ersten Blick wenig streitbare Thema Genitalbeschneidung. Mit Berufung auf "traditionelle Werte" empörten sich einzelne staatliche Vertretungen über die Verurteilung von Genitalverstümmelung als "schädliche kulturelle Praxis". 

Dieses Beispiel aus der jüngsten Praxis internationaler Frauenpolitik zeigt die Komplexität dieser Thematik und dass es allein mit der im Westen verbreiteten Erschütterung über FGM nicht getan ist. Denn ein bevormundender Gestus, der großzügig feministische Werte und frauenpolitische Maßnahmen predigt, ist vielen suspekt. Zu gut kennen viele Feministinnen Wortmeldungen über Kopftuchträgerinnen, die zwar beanspruchen zu befreien, letztendlich aber ohnehin marginalisierten Gruppen den Stempel der Unterentwickelten aufdrücken. 

Diese Blindheit gegenüber den eigenen Verstrickungen in kulturelle und soziale Zusammenhänge gilt als "universalistisch". Jegliche Diskriminierung oder Gewalt gegen Frauen mit spezifischen Eigenheiten von bestimmten Kulturen oder Religionen zu begründen oder gar zu rechtfertigen sei hingegen "Kulturrelativismus". Diese beiden von der Theorie formulierten Stolpersteine bringen schon etwas mehr Licht in die auf den ersten Blick rätselhaften Einwände einiger Teilnehmerinnen der UN-Sitzung. Noch mehr Einblick gibt es dank der Arbeit einiger Wissenschaftlerinnen.

Wie darüber reden?

Beim Thema FGM verdeutlicht sich die Problematik Universalismus versus Kulturrelativismus schon in der Begrifflichkeit, die zwischen "Verstümmelung" und "Beschneidung" changiert. Die Politikwissenschaftlerin Sara Paloni forschte in London über den Diskurs zu FGM, der unter anderem zeigt, dass sich viele betroffene Frauen dagegen wehren, als "verstümmelt" bezeichnet zu werden.

Auch die Bezeichnung "FGM", die sich weitgehend durchgesetzt hat und auch von der UNO und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet wird, wird nicht kritiklos akzeptiert. Die Befürchtungen lauten etwa, "Female Genital Mutilation" würde die betroffenen Frauen stigmatisieren und bestimmte Kulturen dämonisieren. Eine ugandische Organisation verwendet die begriffliche Alternative "Female Genital Cutting", eine Benennung, der sich auch die UNICEF in Kombination mit FGM bedient, also "FGM/C".

Unterschiedliche Bewertung

Neben diesem den Diskussionen zugrunde liegenden sprachlichen Aspekt spielt auch die unterschiedliche Bewertung kultureller Praktiken eine wesentliche Rolle. Ein Blick auf bestimmte Praktiken "fremder Kulturen" übersehe oft die Verhaftung der KritikerInnen in der eigenen Kultur, wird argumentiert. Die Frage, ob von "Cutting" oder doch besser von "Mutilation" die Rede sein soll, knüpft bereits Assoziationen mit Körperpraktiken westlicher Kulturen, die sich aktuell in chirurgischen Schamlippenverkürzungen oder Vaginaverengungen zeigen. Innerhalb des dominanten Diskurses werden diese westlichen Körperpraktiken als unproblematisch und völlig freiwillig dargestellt und nichtwestliche Körperpraktiken als Ausdruck patriarchaler Unterdrückung schlechthin repräsentiert, schildert Paloni die Kritik an dieser vereinfachten Gegenüberstellung.

Gewalt an Frauen als politisches Instrument

Instrumentalisierung ist für ForscherInnen ein weiterer wichtiger Gedanke, der bei der Beschäftigung mit FGM, aber auch bei Fragen zur Burka oder zum Kopftuch nicht übersehen werden dürfe. Die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer von der Universität Wien warnt in diesem Zusammenhang von einem Generalverdacht gegenüber bestimmten Einwanderungsgruppen und vor der insgesamt doch sehr erfolgreichen Schaffung eines gesellschaftlichen Bildes, das zwischen "wir" und "die anderen" eine scharfe Trennlinie zieht.

An Frauenrechten ließen sich, so Sauer in einem Interview, sehr gut sichtbare Grenzen ziehen. Damit solle die Meinung transportiert werden, bestimmte migrantische Gruppen würden einfach nicht hierher passen, was letztendlich der Durchsetzung einer restriktiven Migrationspolitik diene. Auch die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze sieht in der Kritik an patriarchalen Unterdrückungspraktiken "anderer" Kulturen ein politisches Interesse. Einerseits würde man sich dadurch seines abendländischen Führungsanspruchs vergewissern, und andererseits könne man die Forderung nach Frauenrechten auch gleich für das eigene kulturelle Selbstverständnis nutzen.

Verantwortung abgeben

"Religion" und "Kultur" werden primär als die Verursacher von Praktiken wie FGM gewertet. Entlang einer kulturrelativistischen Argumentation nicht zuletzt deswegen, um die "Verantwortung abzugeben und die Betreuung Betroffener und die Präventionsarbeit den Betroffen selbst zu überlassen", kritisiert die Publizistin Corinna Milborn in dem Text "Weibliche Genitalverstümmelung in Europa" in dem Sammelband "Zwangsfreiheiten". Eine "duldende Anerkennung als Teil einer Tradition" wertet sie klar als Rassismus. Was bei einem autochthonen, weißen, christlichen Mädchen zu einem Aufschrei führen würde, werde bei Mädchen aus zugewanderten Familien unter dem Deckmantel der "Anerkennung kultureller Werte" akzeptiert. 

Um der Schleife Anerkennung von Kultur versus universelle Frauenrechte zu entkommen, schlägt Birgit Sauer vor, den unpräzisen Kulturbegriff aufzugeben. Der Aspekt der sozialen Schicht sei zum Beispiel auch sehr gewichtig, bleibe aber weitgehend unreflektiert.

Im Westen befreit

Die Probleme, die die theoretische Debatte über FGM formuliert, sind fraglos kompliziert. Doch wie das Schicksal von Waris Dirie das Thema FGM in den europäischen Gesellschaften sichtbarer machte, verdeutlichte es letztlich auch breitenwirksam das problematische Verhältnis zwischen dem westlichen Selbstverständnis und FGM.

2009 kam die Verfilmung des Bestsellers "Wüstenblume" in die Kinos. Der gleichnamige Film zeigt eine Frau, die im Westen erfährt, was es heißt, auch als Frau in Würde zu leben. In der Szene mit der stärksten Symbolkraft für diese Aussage geht Dirie als bejubeltes Model einen Laufsteg entlang, erst mit einer Burka verhüllt, die sie aber bald von sich wirft und - wie neu geboren - strahlend über den Laufsteg schreitet. Ein bombastisches und auch ziemlich imperialistisches Ende für eine Geschichte, die so einfach bestimmt nicht ist. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 12.4.2012)