Zartler: "Das traditionelle Familienbild ist unglaublich stark, und alle Varianten, die davon abweichen, gelten als nachteilig."

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Seit Ende Juni liegt ein neuer Entwurf zum Familienrecht vor.

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Seit mit Ende Juni ein neuer Entwurf zum Familienrecht von Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) vorliegt, kochen die Gemüter rund um das Thema automatische gemeinsame Obsorge wieder hoch. Die Soziologin Ulrike Zartler hat sich mit Trennungen, der Situation der Kinder und dem herrschenden Familienbild beschäftigt, Themen, die Obsorgestreitigkeiten und den viel propagierten "Kampf ums Kind" maßgeblich mitbestimmen. dieStandard.at sprach mit ihr über das herrschende Familienideal und die Frage, wie dieses mit der gesellschaftlichen Realität zerbrechender Ehen und dem Fehlen einer partnerschaftlichen und gleichberechtigen Elternschaft zusammenkracht.

dieStandard.at: Wie weit sind wir auf dem Weg einer gemeinschaftlichen Teilung der Elternschaft?

Zartler: Es gibt die gesellschaftliche Diskussion und den gesetzlichen Rahmen, dass sich beide PartnerInnen gleichwertig an den Haushalts- und Familienpflichten beteiligen sollen. Statistische Daten zeigen allerdings, dass in zwei Dritteln der Familien, in denen Kinder unter 15 Jahren leben, das männliche Ernährermodell gelebt wird, das heißt: Der Vater ist erwerbstätig, sorgt für das Familieneinkommen, und die Mutter ist entweder gar nicht oder im reduzierten Ausmaß erwerbstätig. Die Rollenaufteilung nach einer Trennung spiegelt also häufig die Situation vor der Trennung wider.

dieStandard.at: Bedenken werdende Eltern Szenarien, wie es nach einer möglichen Trennung mit der Kindererziehung weitergehen könnte?

Zartler: Dazu gibt es leider für Österreich wenige Untersuchungen. Aber soweit wir das aus unterschiedlichen Indikatoren wissen, findet die Auseinandersetzung mit rechtlichen Regelungen im Vorfeld kaum statt. Es fehlt das Bewusstsein, dass rechtliche Regelungen massive Auswirkungen auf den privaten Lebensbereich haben. Wertestudien zeigen, dass der Wunsch nach einer befriedigenden, beständigen Beziehung ganz oben steht. Solange die Beziehung positiv erlebt wird, gibt es daher wenig Auseinandersetzung mit den rechtlichen Folgen von Beziehung, Ehe, Trennung oder Scheidung.

dieStandard.at: Wenn das Ideal einer dauerhaften Beziehung noch so stark ist, dann ist vermutlich auch die Kleinfamilie ein starkes Ideal.

Zartler: Auf der rechtlichen Ebene besteht das Leitbild der bürgerlichen Kernfamilie nach wie vor: verheiratetes Paar mit leiblichen Kindern, im gemeinsamen Haushalt lebend.

dieStandard.at: Denken Sie, dass das Festhalten an diesem Beziehungs- und Familienideal die Probleme bei Trennungen noch verstärkt - Stichwort Obsorgestreitigkeiten?

Zartler: Ja. Das traditionelle Familienbild ist unglaublich stark, und alle Varianten, die davon abweichen, gelten als nachteilig. Das betrifft nicht nur Trennungen, sondern etwa auch Ein-Eltern-Familien.

dieStandard.at: Gibt es einen geschlechtsspezifischen Unterschied, wer die traditionellen Modelle stärker präferiert?

Zartler: Ja. Männer haben zu unterschiedlichen Familienthemen meist konservativere Einstellungen als Frauen.

dieStandard.at: Im Zuge der Debatten zur automatischen Obsorge ist immer wieder vom "Kampf ums Kind" die Rede. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen brauchen wir, um diesen Kampf zu entschärfen?

Zartler: Das ist sehr schwer zu sagen, weil Trennungen eine klassische Konfliktsituation sind. Zwei Beteiligte streiten um etwas, das beide haben wollen. Wobei zu erwähnen ist, dass nicht in allen Fällen beide Eltern begeistert die Obsorge übernehmen wollen, wie dies teilweise dargestellt wird.

In diesen Situationen geht es zentral um Konfliktlösungskompetenzen. Die Menschen trennen sich ja nicht, weil sie so toll miteinander Kompromisse schließen können, sondern unter anderem, weil die Konfliktlösung schlecht funktioniert. Die immer wieder eingeforderte Trennung von Paar- und Elternebene funktioniert nur bedingt, weil Kinder sich fantastisch eignen, um die verbliebenen Konflikte, die das Paar als Paar hat, dann eben auf der Elternebene auszutragen. Denn hier geht es an die Substanz, und man kann den oder die andere/n treffen.

Es braucht auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, um die Konflikte zu entschärfen und die Situation auch für Kinder akzeptabel zu machen. Mit dem Kinderbeistand oder der Familiengerichtshilfe ist schon einiges getan worden. Das sind Maßnahmen, die sich auf Kinder positiv auswirken können: Es fungiert jemand als Sprachrohr des Kindes oder man nimmt Kindern die Angst vor Gesprächen mit RichterInnen. Auch die derzeit diskutierte vorgelagerte Schlichtungsstelle kann ein Schritt in Richtung Deeskalation sein.

dieStandard.at: In der Debatte um die gemeinsame Obsorge geben alle Parteien an, doch nur das Wohl des Kindes im Auge zu haben. Ist die automatische gemeinsame Obsorge im Sinne des Kindes?

Zartler: Ich glaube, dass hier mit dem Begriff des Kindeswohles oft sehr großzügig umgegangen wird. Wenn von Kindeswohl gesprochen wird, geht es sehr oft um Rechte gegenüber dem Kind, die einem Elternteil zustehen sollen. Es wäre durchaus angemessen, sich im Einzelfall anzusehen, was es genau bedeutet, wenn vom Kindeswohl die Rede ist.

So gibt es zwar ein elterliches Besuchsrecht, aber keine elterliche Pflicht, dem auch nachzukommen. Aus den Sozialwissenschaften ist bekannt, dass es für die Entwicklung des Kindes positiv ist, wenn es nach einer Scheidung Kontakt zu beiden Eltern hat, mit einigen Ausnahmen wie Gewalt, extrem konflikthaften Beziehungen der Eltern oder Ähnlichem. Ein für das Kind durchsetzbares Recht auf Kontakt gibt es aber nicht.

dieStandard.at: Haben sich Trennungen oder Scheidungen für Kinder heute etwas normalisiert, einfach weil sie vielleicht einige KlassenkollegInnen oder FreundInnen haben, die Ähnliches erlebt haben? 

Zartler: Die Tatsache, dass andere Kinder in der Klasse auch geschiedene Eltern haben, hilft dem einzelnen Kind nicht weiter, unter anderem weil das zwischen den Kindern häufig nicht thematisiert wird. Vielleicht tauscht man sich in einem vertrauensvollen Verhältnis mit dem oder der besten FreundIn aus, aber häufig ist das auch in Freundesgruppen kein Thema.

Paul Amato, ein berühmter Scheidungsforscher, meint aus der Perspektive des Kindes: "Divorce is always pain." Gleichzeitig gibt es aber in der Scheidungsforschung die These der "Good Divorce", das heißt, je nachdem, wie umfassend die Kompetenzen und Ressourcen der beteiligten Erwachsenen sind, kann eine Scheidung so geregelt werden, dass Kinder keinen Schaden erleiden. Das kann damit beginnen, wie Eltern ihr Kind über eine bevorstehende Scheidung informieren.

Hier gibt es mitunter schwierige Situationen, zum Beispiel wenn das Kind beim Frühstück erfährt, heute zieht der Papa aus und am Abend ist er dann nicht mehr hier. Damit kämen Erwachsene auch schlecht zurecht. Wenn so enge emotionale Bindungen verändert werden, muss dem Kind die Gelegenheit gegeben werden, sich darauf einzustellen, und es muss Antworten auf seine Fragen bekommen. Die sind in diesem Zusammenhang oft auch sehr banal: Kann ich den anderen Elternteil weiterhin sehen, wo werde ich dann schlafen, muss ich meine Zahnbürste mitnehmen, habe ich dort ein Kuscheltier und Ähnliches.

dieStandard.at: Welche Auswirkungen hat das hohe Ideal der bürgerlichen Kernfamilie?

Zartler: Das Ideal der bürgerlichen Kernfamilie produziert ganz spezifische Vorstellungen von "Scheidungskindern" als "arm" und "benachteiligt". Es gibt also ganz massive Auswirkungen dieser Idealvorstellungen, weil sie auch eine Hierarchie unterschiedlicher Familienformen bewirken, wo die Kernfamilie ganz oben steht und die Ein-Eltern-Familie ganz unten. Das ist für Eltern und Kinder, die in diesen Familien leben, auch spürbar.

dieStandard.at: Warum trennen sich heute so viele? Sind gesellschaftliche Fortschritte schuld? Dem Feminismus wird ja zum Beispiel gern dafür eine Mitschuld gegeben.

Zartler: Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim meinte: Früher hielten Frauen im Enttäuschungsfall an ihren Beziehungen fest und gaben ihre Hoffnungen auf - heute hingegen halten sie an ihren Hoffnungen fest und geben ihre Beziehung auf. Das stimmt zu einem Teil, die Spielräume für Frauen haben sich vergrößert. Andererseits muss man auch sehen, dass es unterschiedliche Muster gibt, wie Trennungen verlaufen. Ein Beispiel sind Fälle, in denen nach jahrelanger Ehe ein Partner durch eine jüngere Person ersetzt wird. 

Studien verweisen aber auch auf geschlechtsspezifisch unterschiedliche Modelle. Frauen berichten häufig von jahrelang andauernden Überlegungen, die beim endgültigen Entschluss zur Scheidung für sie jedoch unverrückbar sind. Den Partner trifft das dann völlig unvorbereitet, unter anderem, weil in der Zeit davor nicht ausreichend oder nicht für beide Partner passend kommuniziert wurde oder auch, weil die Probleme vom Partner nicht ernst genommen wurden. Oft verlaufen diese Prozesse also nicht für beide PartnerInnen gleichzeitig.

dieStandard.at: Trennen sich Paare heute zu schnell?

Zartler: Wenn diese Prozesse so unterschiedlich verlaufen wie beschrieben, scheint das in bestimmten Fällen für einen Partner so zu sein. Doch speziell Leute mit Kindern überlegen sich eine Trennung meist sehr gut. Die in der öffentlichen Diskussion mitunter kolportierte leichtfertige Haltung "Jetzt lass ich mich mal scheiden, weil es mir woanders besser gefällt" - das wird seitens der Forschung nicht bestätigt. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 22.7.2012)