Frauen mit Behinderung in vielen Lebenslagen zu unterstützen, haben sich die Peer-Beraterinnen der "Zeitlupe" zur Aufgabe gemacht.

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Elisabeth Löffler (li.) und Marinela Vecerik sitzen beide im Rollstuhl und begegnen den Frauen in der Beratung deshalb mit ähnlichem Erfahrungshintergrund. Vielen nimmt das die Hemmung, das Gespräch mit ihnen zu suchen.

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"Ich bin keine Psychologin und keine Therapeutin", betont Elisabeth Löffler. "Ich und meine Kundin, wir sind zwei Frauen mit Behinderung in dieser Welt, die ihren Erfahrungsschatz teilen." Seit April 2012 leitet die Lebens- und Sozialberaterin die neu gegründete Peer-Beratungsstelle "Zeitlupe" für Frauen mit Behinderung. Die erste ihrer Art in Österreich.

Peer, das bedeutet, mit ähnlichem Erfahrungshintergrund zuhören, gemeinsam Lösungen und neue Möglichkeiten finden und Unterstützung in vielen Lebenslagen. Wie viele ihrer Klientinnen oder Kundinnen, wie die Peer-Beraterin sie lieber bezeichnet, sitzen auch Elisabeth Löffler und ihre Kollegin Marinela Vecerik im Rollstuhl. Das ermöglicht eine besondere Vertrauensbasis: "Wir müssen unseren Alltag nicht erst erklären und steigen auf einer gemeinsamen Ebene ins Gespräch ein." Das reduziere für manche Frauen auch die Hemmschwelle, sich beraten zu lassen.

Expertinnen in eigener Sache

Derzeit besuchen drei bis fünf Frauen pro Woche die barrierefreie Beratungsstelle in Wien-Simmering, Tendenz stark steigend. Selbstständiges Wohnen und Leben, Frausein, Beziehung und Sexualität sowie die Organisation von persönlicher Assistenz stehen dabei im Mittelpunkt. Die Beratung erfolgt anonym, kostenlos und vor allem freiwillig. "Viele Kundinnen fragen, wann sie wiederkommen müssen, weil sie als Mensch mit Behinderung meist gewohnt sind, gesagt zu bekommen, was gut für sie ist. Wir unterstützen die Frauen darin, selbstbestimmt zu leben, Ja und Nein sagen zu lernen - ob sie wiederkommen wollen, entscheiden sie alleine."

Als Frau wahrgenommen werden

In erster Linie als Frau wahrgenommen zu werden, und dann erst als Mensch mit Behinderung, ist vielen ihrer Kundinnen ein großes Bedürfnis, berichtet Elisabeth Löffler aus ihrem Beratungsalltag. "Die Behinderung wird in der Gesellschaft vor dem Frau sein gesehen. Frau sein mit seinen vielseitigen Facetten und Bedürfnissen wird in ihrem Alltag kaum thematisiert, viele wollen deshalb einem Frauenklischee entsprechen, von dem sie glauben, dass sie damit einem Mann gefallen." Auch das Thema Sexualität werde kaum angesprochen, "und wenn, dann in Zusammenhang mit Missbrauch oder als zusätzliches Problem". Wenn eine Frau mit Behinderung etwa ein Kind möchte, begegne ihr die Umgebung oft mit Unverständnis, "nach dem Motto: 'Sie braucht ja selbst Hilfe und jetzt will sie auch noch ein Kind, um das sie sich kümmern muss'", weiß Löffler, die eine dreijährige Tochter hat, auch aus eigener Erfahrung.

In vielen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung fehle es an Zeit und Kapazitäten, um sich diesen Themen zu widmen. "In der 'Zeitlupe' ist Raum, ihr Frau sein ganz individuell zu entdecken", sagt Löffler. "Die Frauen sollen ihre Behinderung nicht verstecken müssen; sie sollen aber auch sein dürfen, ohne diese dauernd thematisieren zu müssen."

Persönliche Assistenz im Alltag

Viele Frauen haben auch Fragen zur persönlichen Assistenz, der organisierten Hilfe im Alltag. Welche Voraussetzungen etwa nötig sind, um die Pflegegeld-Ergänzungsleistung zu erhalten oder wie die Formalitäten zu regeln sind. Manche Frauen haben auch bereits einen oder mehrere AssistentInnen und suchen nach Lösungen für bestehende Konflikte oder Ärger. "Die Frauen sollen immer die Wahl haben, mit wem sie arbeiten möchten. Die Suche nach AssistentInnen verläuft wie die Suche nach MitarbeiterInnen: Die Frau ist die Arbeitgeberin, die AssistentInnen kommen zu ihr zum Bewerbungsgespräch und beide Seiten können danach entscheiden, ob sie miteinander arbeiten wollen."

Außerdem werde ein Probemonat vereinbart, nach dessen Ablauf beide Seiten das Beschäftigungsverhältnis lösen können. "Es geht ja nicht nur um das Versorgtwerden, sondern auch um Lebensqualität." Wichtig ist Elisabeth Löffler, die auch selbst mit persönlichen AssistentInnen lebt, nur zu beraten und die Entscheidung, ob sie Assistenz in Anspruch nehmen soll, wiederum der Klientin zu überlassen: "Die meisten Frauen, die ich berate, können sich ohnehin gut selbst einschätzen."

Unterstützung durch Ninlil-Frauen

Stoßen die Beraterinnen auf tiefergehende Probleme, bei denen sie psychologische oder therapeutische Hilfe für ratsam halten, können sie auf ein großes Netzwerk an Fraueneinrichtungen zurückgreifen. Besonders wenn es um sexuellen Missbrauch geht, sind die betroffenen Frauen in der "Zeitlupe" gut beraten: Eingegliedert in den Verein Ninlil, der seit über 15 Jahren gegen sexuelle Gewalt an Frauen mit Lernschwierigkeiten und Mehrfachbehinderung kämpft, können Elisabeth Löffler und Marinela Vecerik an ihre mit dem Thema vertrauten Kolleginnen verweisen, mit denen sie Tür an Tür arbeiten.

Die Wahl haben

Finanziert wird die "Zeitlupe" vom Fonds Soziales Wien, der Ninlil auch mit der Gründung der Peer-Beratungsstelle beauftragte. "Vor uns gab es keine reine Frauen-Peer-Beratung für Frauen mit Behinderung", sagt Löffler. "Die Frauen konnten nur gemischte Beratungsstellen in Anspruch nehmen. Nun können sie wählen, wohin sie gehen möchten - das ist eine große Bereicherung." (isa, dieStandard.at, 5.8.2012)