Von der "braven bürgerlichen Weiblichkeit" ...

Foto: Die Wand/Thimfilm

... zur Kriegerin: Marlen Haushofers Hauptfigur in "Die Wand".

Foto: Die Wand/Thimfilm

Eine namenlose Frau sitzt am Tisch, in einer einsamen Jagdhütte in den Bergen. Vor ihr liegt ein Packen vergilbter Zettel, auf die sie ihre Geschichte niederschreibt: Zwei Jahre ist es her, als sie zusammen mit einem befreundeten Ehepaar einen Ausflug hierher unternommen hat. Als das Paar vom Spaziergang ins Dorf nicht mehr zurückkehrt, macht sich die Frau auf die Suche - und stößt dabei auf eine gläserne, undurchdringliche Wand, hinter der alles Leben ausgelöscht zu sein scheint. Wie versteinert wirken die Menschen und Tiere, die die Frau auf der anderen Seite der Wand erblickt. Plötzlich auf sich allein gestellt, eingeschlossen hinter dieser unsichtbaren Mauer, kämpft sie inmitten der rauen Natur ums Überleben. Lediglich ein paar zugelaufene Tiere sowie Luchs, der Jagdhund des verschwundenen Paares, leisten ihr fortan Gesellschaft.

Entfremdetes Frausein

"Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal, ob heute wirklich der fünfte November ist", hält die Frau in ihren Tagebuchnotizen fest. "Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte." So beginnt die Geschichte in "Die Wand", dem berühmten dystopischen Roman der oberösterreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer, der 1963 veröffentlicht wurde und mittlerweile zu den Klassikern der deutschsprachigen Literatur zählt.

Lange Zeit galt der Stoff als ungeeignet für die Kinoleinwand - zu schwierig erschien u.a. die filmische Umsetzung der unsichtbaren Wand, die zugleich als komplexe Metapher fungiert: Die rätselhafte Barriere, die die Frau vom Rest der Menschheit trennt, symbolisiert sowohl eine "innere" Gefangenschaft als auch die Abschirmung des eigenen Ichs von den Zwängen der Außenwelt. "Jene Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird", erklärte Marlen Haushofer einmal selbst. In jedem Fall erscheint die Wand als Entfremdung von der bisherigen Existenzweise - auch als Frau.

Von der Frau zur "Kriegerin"

Allen Hindernissen zum Trotz hat sich Regisseur Julian Roman Pölsler an das Filmprojekt herangewagt. Sieben Jahre arbeitete er an der Filmadaption des bekanntesten Werks von Marlen Haushofer, die 1970, kurz vor ihrem 50. Geburtstag, an den Folgen von Knochenkrebs verstarb. In Rückblenden erzählt die weibliche Hauptfigur von ihrem neuen Leben: Unter größter Mühsal lernt sie schrittweise, für sich selbst zu sorgen - sie mäht Heu und hackt Holz, geht mit dem Gewehr auf Wildjagd, legt einen Kartoffelacker an. Die Wand zwingt die Frau zur Verwandlung. Sie legt Kleid und hohe Schuhe - äußere Zeichen ihrer braven bürgerlichen Weiblichkeit - ab und wird zur "Kriegerin", wie es Hauptdarstellerin Martina Gedeck formuliert. Mit einer äußerst konzentrierten Performance trägt die renommierte Charakterschauspielerin, dem deutschsprachigen Kinopublikum bestens bekannt seit "Das Leben der Anderen" und "Der Baader Meinhof Komplex", den gesamten Film quasi im Alleingang.

Julian Pölsler hält sich eng an die Romanvorlage - zu eng, wie manche KritikerInnen bemängeln. Einzig die Rede der birmanischen Friedensnobelpreisträgerin und Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi, die die Filmfigur im Radio empfängt, sind ein kleiner Ausreißer und schlagen eine Brücke in die Jetztzeit. Pölsler: "Es ist als eine Widmung an jene Frauen gedacht, die heute noch gezwungen sind, hinter einer unsichtbaren Wand von Ignoranz und Intoleranz zu leben." Ansonsten erweist sich die Kinoversion mehr als konsequente Illustration denn Interpretation des Buches. So behält Pölsler auch den gleichmütig vorgetragenen und umso beklemmenderen Ton der Erzählerin bei, die sich schon bald mit ihrem Schicksal arrangiert. "Während des langes Rückwegs dachte ich über mein früheres Leben nach und fand es in jeder Hinsicht ungeeignet", sagt die Frau im Roman, als sie von der Jagdhütte ins nächste Tal wandert und das Gebiet, das von der Wand umschlossen wird, erkundet. "Ich hatte wenig erreicht von allem, was ich gewollt hatte, und alles, was ich erreicht hatte, hatte ich nicht mehr gewollt."

Einsam, aber frei

Wie in allen Werken von Marlen Haushofer trägt auch die Protagonistin in "Die Wand" autobiografische Züge. Immer wieder ging es der Autorin, die insbesondere von der Zweiten Frauenbewegung wiederentdeckt wurde, um das Ausbrechen aus dem bürgerlichen Frauenleben und den konservativen Geschlechterrollen der Nachkriegsära. Doch nicht nur FeministInnen, auch die Friedensbewegung entdeckte das Buch - zu Haushofers Lebzeiten noch kein kommerzieller Erfolg - für sich und las im apokalyptischen Szenario, das streckenweise an eine nukleare Katastrophe gemahnt, eine radikale Zivilisationskritik.

Für ihre Autonomie und Freiheit, an die sich die Hauptfigur erst nach und nach gewöhnt, zahlt sie einen hohen Preis: Sie bleibt einsam. Wenig überraschend fühlt sich die Erzählerin in "Die Wand" daher den Outlaws der Tierwelt verbunden, wie etwa einer Albino-Krähe. Ausgestoßen von ihren Artgenossen stellt ihre Anwesenheit aber auch die alte Ordnung ihrer Gesellschaft infrage - und verweist auf das, was danach kommt. "Ich sehe, dass dies noch nicht das Ende ist", sagt die Frau. "Die Krähen haben sich erhoben und kreisen schreiend über dem Wald. Wenn sie nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich." (Vina Yun, dieStandard.at, 30.9.2012)