Verena Stefan wurde am 3. Oktober 1947 in Bern geboren.

Foto: Verlag "das Wunderhorn"

Vorgeworfen wird ihr vieles, vor allem aber eines: ihre Analyse von Heterosexualität als Zwangsnormalität. Als die Schweizer Autorin Verena Stefan diese in ihrem Erstlingswerk "Häutungen" 1975 vorlegte, traf sie ins Mark der patriarchalen Welt. Es hagelte Vorwürfe und Anfeindungen, besonders für den Satz "Liebe ist eine tausendfache Verwechslung von begehrt sein und vergewaltigt werden".

Gift für die "normale" Frau-Mann-Beziehung

Die KritikerInnen tobten: Sie habe die Geschlechterbeziehungen entzaubert, Liebe auf sexuelles Begehren reduziert und Sex als Akt der Gewalt ausgegeben. Den Mann als Unterdrücker und Sündenbock determiniert, und die Frau als Objekt und Opfer. Verena Stefans Sicht von heterosexuellen Bindungen als Machtbeziehungen sei schlicht und einfach männerfeindlich, Gift für jede "normale" Frau-Mann-Beziehung.

Auf der anderen Seite gab es auch euphorische Zustimmung von Seiten der sich damals gerade etablierenden Neuen Frauenbewegung. "Häutungen" katapultierte innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller und feministischen Kultbuch, das in acht europäische Sprachen übersetzt worden ist.

"Die Machtstrukturen haben sich verfestigt"

Seit dem Erscheinen des Buches sind fast vierzig Jahre vergangen. Damals war Verena Stefan 28 Jahre alt, jetzt ist sie 65. Hat sich an ihrer Sichtweise etwas verändert? In einem Interview mit der "taz" im Jahr 2008 sagte sie: "Sie sehen ja, welchen Zwängen junge Mädchen heute ausgesetzt sind, was Attraktivität oder Sexualpraktiken betrifft. Das ist angereichert und verschärft durch Videos, Internet, Pornografie. Sie haben die Machtstrukturen auf ungeahnte Weise verfestigt". Bei den Jugendlichen gehe es in erster Linie um die Befriedigung der Burschen, die Mädchen hätten sie zu bedienen. "Die erste Erfahrung, die Mädchen machen, ist oft von einer solchen Machtbeziehung geprägt. Und im Übrigen von einem Zwang zur Heterosexualität. Alle wissen, dass man lesbisch oder schwul sein kann, aber man darf nicht dazugehören, das ist der soziale Tod in diesem Alter".

An der Konstruktionsweise der patriarchalen Welt habe sich nichts verändert, sie sei nach wie vor hierarchisch und an der Spitze weiß, heterosexuell und männlich. Alles andere sei weniger wert, sagte Stefan. Deshalb wollte sie sich nie zur "Frau" reduzieren lassen, sondern "ein Mensch sein". Denn als Frau müsse man gegen das Klischee und gegen die Rolle arbeiten.

Festlegen will sich Verena Stefan bis heute auch nicht auf eine bestimmte feministische Strömung. Der Gleichheitsfeminismus sei abzulehnen, solange Gleichheit am weißen, heterosexuellen Mann gemessen wird. Und der Differenzansatz würde nicht viel bringen, weil sich die im Patriarchat festgelegte Weiblichkeit nicht aufwerten lässt. Feminismus ist für Stefan "schlicht eine Methode des kritischen Denkens. Wenn man sich für die Veränderung der Machtstrukturen interessiert, ist es die einzig vernünftige Methode".

Fremdheit verlangt nach Orientierung

In ihrem zweiten Buch "Mit Füßen und Flügeln", das 1980 erschienen ist, postulierte Verena Stefan "Liebe zwischen Frauen heilt" und meinte damit die lesbische Liebe. Heute würde sie diesen Satz ausweiten: Da Frauen in einer Parallelwelt leben, müssten sie einander immer wieder versichern, dass ihre Wahrnehmungen stimmen, dass sie nicht spinnen, nicht verrückt sind. Deshalb sei die Bestätigung von anderen Frauen so wichtig.

Die Beziehungen zwischen Frauen und das Empfinden des Fremdseins ziehen sich wie ein roter Faden durch alle ihre Werke und bündeln sich in ihrem letzten Buch auf eindrucksvolle Weise. Im Roman "Fremdschläfer", den sie 2007 vorlegte, ist es ihre Krebserkrankung, welche die Wahrnehmung von Fremdheit bis in den eigenen Körper hinein verstärkt. Einige Jahre zuvor war die Autorin nach Kanada ausgewandert und fremd in diesem Land. Als Frau war sie von jeher Fremde im Patriarchat, als Lesbe Fremde in der Heterowelt - und nun als Krebskranke auch noch fremd im eigenen Leib. Diese Erfahrungen hätten immer wieder nach neuen Orientierungsmustern verlangt.

Wie sie Feministin wurde

1968 war Verena Stefan nach Berlin gegangen, um sich zur Physiotherapeutin ausbilden zu lassen. Durch ihren damaligen Freund lernte sie 1971 Helke Sander kennen, die am „Frauenhandbuch Nr.1" der feministischen Gruppe "Brot und Rosen" schrieb. "Bei diesem Gespräch hat es bei mir ‚klick' gemacht", erinnert sie sich im Interview. "Ich dachte: da möchte ich mitmachen. Dann ging's los, mit Frauenkongressen und Aktionen zum Paragrafen 218". Bald darauf sollte "Brot und Rosen" für das Kursbuch einen Beitrag schreiben zum Thema: "Wie lässt sich die Emanzipation der Frau mit der Beziehung zu einem Mann vereinbaren?" Aus dieser Publikation wurde nichts, stattdessen entstand daraus das Manuskript für "Häutungen". Dieses Buch hätte geschrieben werden müssen, es sei das "Zeugnis einer einzigen Gehirnwäsche".

Verena Stefan lebt als freie Schriftstellerin, Übersetzerin von Adrienne Rich, Monique Wittig und Maureen Murdock, und als Dozentin für Kreatives Schreiben in Montreal. Ihr Werk wurde mehrmals ausgezeichnet und 2007 vom Literaturarchiv der Schweizer Nationalbibliothek erworben. Stefan: "Das geschriebene Wort ist tatsächlich meine wichtigste Heimat...". (Dagmar Buchta, dieStandard.at, 2.10.2012)