Die Chinotto wird sowohl grün als auch vollreif geerntet - süßer aber wird sie dadurch auch nicht.

Foto: Georg Desrues

Dafür schmecken die von Gian Pietro Pamparino geernteten Früchte in kandierter Form...

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...oder als Basis stylisher Limonaden.

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Wenn Gian Pietro Pamparino zu seinen Chinotto-Bäumen will, muss er zu vier verschiedenen, weitverstreuten Gärten fahren - bergab, bergauf über die eng geschwungenen Straßen Liguriens. "So ist das bei uns", sagt der Gärtner und Obstbauer, "wir leben in einem schmalen Landstreifen voller Hügel und Berge - weitläufige Plantagen sind hier nicht möglich." Außerdem sei das Klima in der norditalienischen Region nicht so vorteilhaft wie etwa im Süden des Landes. Ab und zu kommt es sogar zu Winterfrost, und da sei es von Vorteil, wenn die Pflanzen an verschiedenen Plätzen stehen, damit nicht gleich alle erfrieren.

"Lange war die Chinotto eine vergessene Frucht, heute interessieren sich die Leute wieder dafür", erzählt Signore Pamparino, während er den Wagen parkt. Dann öffnet er das Tor zu einem verwunschenen Terrassengarten voller Zitrusbäume samt einem barocken Palazzo darüber. Um die Nachfrage zu bedienen, pflanzt er neu aus. Bald sollen es tausend Bäume sein. Doch ganz so einfach lässt sich die Produktion nicht steigern. "Die Chinotto-Bäume sind launisch, manchmal tragen sie sehr viel, manchmal gar keine Früchte. In guten Jahren beträgt die Ernte in ganz Ligurien nur 20.000 Kilo, meistens aber noch viel weniger", sagt er.

Dreimal im Jahr wird geerntet

Irgendwann im 16. Jahrhundert, so heißt es, wurde die Bitterorange von einem Seefahrer aus China hierher an die ligurische Küste gebracht. Im Laufe der Jahrhunderte passte sich der Baum an die Böden und das Klima am Mittelmeer an. "In dieser Form ist er einzigartig, es gibt ihn nur bei uns", sagt Pamparino und steigt eine Terrasse nach der anderen hoch, vorbei an Zitronen- und Orangenbäumen. Am höchsten Punkt hat er seine Chinottos gepflanzt, keiner ist größer als einen Meter, aber alle behangen mit üppigen Trauben noch tiefgrüner Früchte.

"Wir ernten dreimal im Jahr, zwischen Mitte September und Ende November - immer nur die größten Früchte. Bei der ersten Ernte sind sie noch grün, später dann reif und die Schale orange", sagt Pamparino. Roh essen kann man die kernlose, intensiv duftende Frucht aber weder in reifem noch in unreifem Zustand. Dafür ist sie zu bitter, ihre Schale zu dick, das Fruchtfleisch zu trocken.

In verarbeiteter Form indessen erlebte die Chinotto ihre Hochblüte Ende des 19. Jahrhunderts. Damals begann die feine europäische Gesellschaft an die Riviera zu reisen, allerdings nicht im Sommer, sondern im Winter, um im milden Klima der Mittelmeerküste unter blühenden Oleandern, Palmen und Orangenbäumen über die Strandpromenaden zu flanieren. Und um auf den Café-Terrassen Liköre zu trinken und Chinottos zu essen.

In Maraschino-Kirschlikör eingelegt

"Früher stand in den meisten Bars der Riviera ein großer Porzellankrug mit eingelegten Chinottos, die man zum Aperitif oder Digestif bestellte", erzählt Pamparino. Mitsamt ihrer Schale werden die ganzen Früchte zuerst kandiert und danach in Maraschino-Kirschlikör eingelegt. "Zum Kandieren eignet sich die Chinotto ganz besonders, dabei wird durch Osmose das Wasser entzogen, während der Zuckersirup in sie eindringt. Dadurch verliert sie an Bitterkeit und gewinnt an Aroma", so Pamparino. Die Winterurlauber nahmen Gläser mit eingelegten Früchten als Souvenir mit nach Hause, die Chinotto verbreitete sich in ganz Europa.

In den 1930er-Jahren war es die faschistische Regierung, die der Frucht zusätzlich zu Erfolg verhalf. "Man suchte nach einem heimischen Getränk, das den damals in Italien einsetzenden Erfolg von Coca-Cola bremsen sollte", erzählt der Obstbauer, "dabei stießen sie auf die Chinotto." Die Rechnung ging auf. Bald erfreute sich die colabraune Limonade großer Beliebtheit. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1960er-Jahre setzte sich die amerikanische Limonade endgültig gegen die italienische durch. Gleichzeitig kamen kandierte Früchte aus der Mode. Und so geschah es, dass die Chinotto-Frucht in Vergessenheit geriet, viele Bäume ausgerissen wurden.

Retro-Aufmachung mit Pin-up-Girl

Seit einigen Jahren ist die Chinotto wieder im Trend. Der Nostalgiewelle ist es zu verdanken, dass heute viele Hersteller das Getränk wieder anbieten. Etwa San Pellegrino unter dem Namen Chinò, die Firma Abbondio in Retro-Aufmachung mit Pin-up-Girl am Etikett und sogar Coca-Cola mit einem Fanta Chinotto. In den Bars machen Rumgetränke Furore, die sich Liguria libre nennen und in denen Chinotto das Cola ersetzt. "Im besten Fall enthalten all diese Getränke nur ein wenig Extrakt der echten Frucht", sagt Pamparino. Dennoch wirke sich der Limonadenboom positiv auf den Bekanntheitsgrad des Baumes aus.

Die Ernte ist in vollem Gange. 5000 Früchte, so schätzt Pamparino, wird er heuer ernten - kaum genug, um seinen kleinen Laden im Küstenort Finalborgo bis zum nächsten Jahr zu versorgen. "Mein Sohn hat sich ein paar neue Produkte einfallen lassen. Wir legen die kandierten Chinottos nun auch in Wodka ein, die Leute sind verrückt danach", sagt Pamparino. Dann führt er durch die schmalen Gassen des mittelalterlichen Orts, zu einer hohen Mauer. Die kleine Tür darin führt in den Hof des Katharinenklosters. Selbst hier hat Pamparino ein Dutzend Chinotto-Bäume gepflanzt. Die seien gleich doppelt vor Frost geschützt, sagt er. Durch die Mauern - und durch die heilige Katharina. (Georg Desrues, Rondo, DER STANDARD, 19.10.2012)