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Queer-feministisches Role Model, Fat-Rights-Aktivistin, Stil-Ikone und Stimmgewalt: Gossip-Sängerin Beth Ditto

Foto: EPA/DANIEL KARMANN

Beth Ditto (mit Michelle Tea): Heavy Cross. Die Autobiografie.
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch
Wilhelm Heyne Verlag 2012, ISBN: 978-3-453-26675-9

cover: heyne verlag

Judsonia ist ein erzreligiöses Mini-Kaff im Bundesstaat Arkansas im Süden der USA. Eine Gegend, in der die BewohnerInnen ihre Schusswaffen in den Wohnzimmervitrinen ausstellen und Männer zum Mittagessen Eichhörnchen im Hof schießen. Jungs mit langen Haaren müssen damit rechnen verprügelt zu werden, und als christliche Gruppen in den 1980ern gegen MTV mobil machen, wird der Musiksender von der Kreisverwaltung kurzerhand verboten. Es ist ein Ort, an dem es kaum möglich scheint, "keine Angst vor Gott zu haben", wie Mary Beth Patterson, heute besser bekannt als Beth Ditto, schreibt: "Wenn man im apokalyptischen Arkansas aufwächst, denkt man ständig, man würde in der Hölle schmoren müssen."

In ihrer soeben auf Deutsch erschienenen Autobiografie "Heavy Cross" offenbart Beth Ditto, Sängerin und Frontfrau der "Punk-Rock meets Soul meets Disco"-Band Gossip, ihre Lebensgeschichte – und das mit gerade mal Anfang Dreißig. Geschrieben hat sie das Buch mit Michelle Tea, Roman-Autorin ("Valencia") und Mitbegründerin des lesbisch-feministischen Spoken-Word-Kollektivs "Sister Spit" in San Francisco.

Arm, fett, queer

1981 geboren, wuchs Ditto unter ärmlichen Verhältnissen heran. Nicht nur ihre eigene Kindheit, auch die ihrer Geschwister und Cousins und Cousinen waren geprägt von körperlicher und sexueller Gewalt: "Die Kindesmisshandlung, wie sie in Tante Jannies Haus stattfand, war auf unmerkliche Weise einfach da, wie das ständige Brummen eines Kühlschranks, das man gar nicht mehr bewusst wahrnimmt, weil man an das Geräusch gewöhnt ist", erzählt Ditto im Buch. "Ich bin mit Schlägen auf den Hintern aufgewachsen und hielt das nicht für Misshandlung. Ich bin dagegen abgestumpft, weil ich diesen ständigen, gewöhnlichen Misshandlungen so lange ausgesetzt war."

Der sexuelle Missbrauch hat in Dittos Familie eine lange Geschichte, die mehrere Generationen zurückreicht – und auch die Ignoranz gegenüber den Opfern hat gewissermaßen Tradition: In der patriarchalen Gesellschaft von Arkansas sei das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und Frauen dermaßen groß, dass das gesamte System darauf ausgerichtet sei, "einen solchen Umstand zu leugnen, für normal zu erklären, unstrafbar zu machen", wie Ditto resümiert.

Ihre rebellische Attitüde und gewichtige Erscheinung ("Ich war ein dickes, lautes, nerviges Mädchen") machen Beth Ditto zur Außenseiterin. In einer Umgebung, in der Teenager-Schwangerschaften auf der Tagesordnung stehen und früh geheiratet wird, will sie ihre lesbischen Gefühle ("Ich war eine Klemm-Femme") aber vorerst noch nicht wahrhaben.

Von der Kirchenchor-Vorsitzenden zum Riot Grrrl

In den Tiefen der amerikanischen Südstaaten-Provinz entwickelt die junge Beth Ditto zwei Talente: Frisuren stylen und singen. Zu ihren popkulturellen Vorbildern gehören Miss Piggy, die forsche Diva aus der Muppet Show, und Mama Cass, eine der wenigen Pop-Sängerinnen, die dick sind und dennoch Erfolg haben, ebenso wie die flamboyanten Pop-Stars Boy George und Cyndi Lauper. Lange vor ihrer Wandlung zum queer-feministischen Role Model und zur glamourösen Fat-Rights-Aktivistin sang Beth Ditto in einem stinknormalen Kirchenchor: "Meine Stimme funktionierte bestens, wenn ich damit Jesus, unseren Herrn und Erlöser, lobpreiste."

Nach der Highschool ergreift Ditto mit FreundInnen die Flucht und lässt ihren alten Heimatort hinter sich: Es geht nach Olympia, der Geburtsstätte der feministischen Riot-Grrrl-Bewegung, wo es normal war, "schlau und radikal zu sein". Als Beth Ditto – via Grunge – die Riot Grrrls für sich entdeckt und durch diese einen Politisierungsschub erlebt, wird das Phänomen bereits im Mainstream verhandelt. Dennoch ist es ein Schlüsselerlebnis, denn es ist "unsere Version der 60er Revolution, eine lose Verbindung junger Menschen, die den nihilistischen Fashion-Punk der Achtziger ablehnte und eine neue Punkbewegung um Auge hatte, die Frauen, Homosexuelle und Gemeinschaftswerte einbezog."

1999 gründet Beth Ditto zusammen mit Nathan Howdeshell und Kathy Mendonca die Band Gossip. 2001 – Ditto ist erst 19 Jahre alt – erscheint das Debütalbum "That's Not What I Heard" bei Kill Rock Stars, dem Heimatlabel zahlreicher Riot-Grrl-Acts wie Bikini Kill. Vier Alben und rund ein Jahrzehnt später sind Gossip vor allem in Europa erfolgreich unterwegs, in den USA erhält das Trio hingegen bis heute vergleichsweise wenig Beachtung.

Lebensgeschichte im Zeitraffer

Auf rund 200 Buchseiten – und mit einigen rasanten und teils verwirrenden Abkürzungen – zeichnet "Heavy Cross" Beth Dittos Weg von Judsonia auf die internationalen Konzertbühnen und die Cover der größten Hochglanz-Magazine nach. Für eine simple Aschenputtel-Erzählung ist Ditto aber natürlich zu reflektiert. Etwas plakativ heißt es an einer Stelle: "Judsonia sitzt mir so tief unter den Fingernägeln, dass keine Maniküre der Welt daran etwas ändern könnte."

"Heavy Cross" mag vielleicht kein literarisches Highlight sein und auch die Frage, wie gut die deutschsprachige Übersetzung gelungen ist, sei dahin gestellt. An Beth Dittos aufrührerischer Attitüde und ihrem Glauben an gesellschaftliche Veränderung könnten sich aber so einige ein Beispiel nehmen – nicht nur die dicken, lesbischen, feministischen Outsiders und Nerds. (Vina Yun, dieStandard.at, 5.11.2012)