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Die Grüne Frauensprecherin Judith Schwentner fordert die Integration von Krankheiten am Bewegungs- und Stützapparat in die Liste der Berufskrankheiten, damit auch Frauenbranchen zum Zug kommen.

Foto: apa/barbara gindl

Den 75-jährigen Patienten täglich aus dem Bett in den Rollstuhl zu heben, war nicht die einzige körperlich belastende Arbeit von Helga E. Die Pflegekraft schleppte auch seine Einkäufe jahrein jahraus in den dritten Stock eines Wiener Altbaus. Ihren Klienten, den sie fast sieben Jahre lang betreute, manövrierte sie in unter die Dusche, zog ihn aus und wieder an, wusch ihn, kochte, bügelte für ihn. Dass diese zum Teil schwere körperliche Belastung an ihrem Bewegungsapparat nicht spurlos vorüberging, zeichnete sich langsam ab: Ein Zwicken da, ein Zwicken dort. Zunehmend habe sie abends auch Rückenschmerzen bekommen. Als sich schließlich vor drei Jahren ihre Wirbelsäule mit einem Bandscheibenvorfall meldete, war die Pflegerin von einem Tag auf den anderen arbeitsunfähig.

Doch für Krankheitsfälle durch Arbeit hat das Sozialversicherungssystem vorgesorgt. Streng definierte und gelistete Berufskrankheiten gewähren den Erkrankten finanzielle Entschädigung, Anspruch auf die Versehrtenrente und die Kostenübernahme einer Rehabilitation. So ist es im Sozialversicherungsgesetz niedergeschrieben. Dessen ungeachtet hatte die Pflegerin trotz arbeitsbedingter Beschädigung ihrer Wirbelsäule keinen Anspruch auf diese Sozialleistung.

Sie ist eine Frau, ihr Klient kein Presslufthammer

Der Grund ist schnell erklärt und paradox: Sie ist eine Frau und ihr Klient kein Presslufthammer. Helga E. wurde von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) mitgeteilt, dass ihr Wirbelsäulenschaden nicht als Berufskrankheit anerkannt wird, weil er nicht durch Vibration in Folge hoher Frequenz - die beispielsweise durch Pressluftwerkzeuge auftreten - ausgelöst wurde. Ähnliches wissen auch KindergartenpädagogInnen zu berichten. Gehörschäden durch den Lärm im Kindergarten, der bis zu 87 Dezibel erreichen kann, werden zwar gelistet, jedoch nur bei sieben Prozent Frauen als solche anerkannt.

89 versus elf Prozent

Anerkannte und gelistete Berufskrankheiten betreffen dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) zufolge zu 86 Prozent männlich dominierte Berufsgruppen wie etwa die chemische Industrie, die Bau- oder Stahlbranche. Ein Blick auf die anerkannten Berufskrankheiten, aufgezeichnet von der AUVA, spiegelt diese Feststellung wider: 2011 wurden insgesamt 1.247 Krankheitsfälle als Berufskrankheiten registriert - von diesen Kranken waren 89 Prozent Männer und elf Prozent Frauen.

Der Frauenanteil der anerkannten Berufskrankheiten ist zudem in den letzten zehn Jahren um ein Drittel gesunken, wie die Tätigkeitsberichte der Arbeitsinspektion zutage bringen. 2001 wurden noch 30 Prozent der berufsbedingten Erkrankungen von Frauen als solche anerkannt. Gleichzeitig ist die Zahl der erwerbstätigen Frauen jedoch nicht gesunken, sondern hat sich im Gegenteil kontinuierlich deutlich erhöht.

Frauen gesünder als Männer?

Lässt dieses Missverhältnis von zunehmender Erwerbstätigkeit bei gleichzeitigem Rückgang an berufsbedingten Erkrankungen darauf schließen, dass Frauen einfach gesünder sind als Männer? "Nein", antwortet Judith Schwentner, der diese Entwicklung schon lange ein Dorn im Auge ist. Sie erinnert daran, dass Frauen im vergangenen Jahr im Durchschnitt etwa gleich lang im Krankenstand waren wie Männer. Auch die Zahlen der Statistik Austria weisen für den Zeitraum 2001 bis 2011 eine konstante, annähernd gleiche Durchschnittsdauer von Krankenständen von Frauen und Männern auf. Im Jahr 2011 hüteten Männer im Durchschnitt 10,6 Tage das Krankenbett, Frauen 10,7 Tage. "Hätten sie seltener arbeitsbedingte Erkrankungen, so müsste sich das eigentlich auch in einer geringeren Zahl an Krankenständen beziehungsweise Krankenstandstagen zeigen", erklärt die Grüne Nationalratsabgeordnete gegenüber dieStandard.at.

ÖGB: Nur 14 Prozent betreffen Frauen

Schwentner steht mir ihrer Kritik allerdings nicht alleine da. Auch der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) drängt mit Verweis auf die konstant ungleiche Verteilung von anerkannten Berufserkrankungen zwischen den Geschlechtern seit Jahren auf eine Erweiterung der Liste. Gefordert werden zudem strengere Gesundheitskontrollen und präventive Maßnahmen in frauendominierten Branchen.

Diese Vorwürfe kommen auch von der Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Diese ermahnt die Mitgliedsstaaten und Arbeitgeber seit Jahren dazu, Gesundheit am Arbeitsplatz geschlechtsspezifisch zu durchleuchten und Maßnahmen zur Prävention zu setzen. Die Agentur mit Sitz in Bilbao geht noch einen Schritt weiter und verlangt, allgemeine Diskriminierungsaspekte am Arbeitsplatz zu berücksichtigen.

Denn die hohe Teilzeitbeschäftigung von Arbeitnehmerinnen, ihre geringen Aufstiegschancen, niedrigere Entlohnung, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und das Gros an häuslicher, reproduktiver Arbeit führen zu Stresserkrankungen und sollen von den Mitgliedsstaaten als solche auch betrachtet werden. Lückenhafte Kontrollen in klassischen Frauenbranchen wie etwa im Handel, in Pflegeberufen, im Gesundheitswesen, in Callcentern sowie der Textil- und Bekleidungsindustrie beklagt auch Judith Schwentner. Diese würden zwar kurzfristig Kosten verursachen, jedoch langfristig die hohen Krankheitsfolge-Kosten mindern.

Machbares machen

Die Beanstandungen stoßen bei der Regierung bislang jedoch auf taube Ohren: Anfang November beschlossen SPÖ und ÖVP in der Regierungsklausur die Liste zu erweitern, Diskriminierungen wurden dadurch jedoch nicht beseitigt. Es wurde etwa geplant, nicht nur durch Erschütterung hervorgerufene Erkrankungen, sondern auch vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen zu erfassen, die beide zum Beispiel durch das Führen eines Presslufthammers entstehen können. Für Schwenter weiterhin eine unbefriedigende Situation, zumal die Erweiterung der Liste wieder mehrheitlich Männerbranchen betreffen. Würden Erkrankungen am Bewegungs- und Stützapparat diese Anerkennung finden, wären damit viele Frauenberufe inkludiert, lautet eine ihrer Forderungen. 

Von Seiten des Gesundheitsministers heißt es gegenüber dieStandard.at, dass diese Erweiterungen nicht einfach seien und das Machbare gemacht würde, "mehr ist bei der Erweiterung in diesem Jahr nicht drinnen gewesen". "Das ist mehr als bedauerlich", ärgert sich Schwentner. "Die Regierung scheint ein Bild von Frauen- und Männerarbeit zu haben, das nicht mehr der Realität entspricht". Der veränderten Arbeitswelt müsse auch in der Gesundheitspolitik Rechnung getragen werden, fordert die Grüne Abgeordnete.

Existenzelle Fragen

Für Helga E. kommt diese Debatte ohnehin zu spät. In den Beruf der Pflegerin kann sie nicht mehr zurück, das haben ihr die ÄrztInnen bestätigt. Derzeit steht für sie eine Umschulung zur Bürotätigkeit am Programm. Ein Umstand, den sie als zynisch bezeichnet. (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at, 18.11.2012)