Hilde Spiel: Kati auf der Brücke
Mit einem Nachwort von David Axmann
edition atelier 2012
192 Seiten
ISBN 978-3-902498-58-8

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Autorin Hilde Spiel: Zeitlebens haderte sie mit ihrem "Brotberuf" Journalismus.

Foto: Wolf Suschitzky, London

Die erste Liebe und das Leiden daran. Die erwartungsvolle Sehnsucht nach allumfassendem Verstehen und die schlussendliche Erkenntnis, in Wahrheit ganz allein zu sein. Hilde Spiel legte mit ihrem ersten Roman "Kati auf der Brücke" eine Analyse über Liebe, Beziehungen und Geschlechterdifferenz vor, die tiefgehender kaum sein könnte. Das erstaunt umso mehr, als die österreichische Schriftstellerin beim Erscheinen ihres Debüts erst 22 Jahre alt war. 1933 im Zsolnay-Verlag erstmals publiziert, wurde das Buch ein Jahr später mit dem Julius-Reich-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit kurzem liegt es in der edition atelier wieder neu auf.

Hilde Spiel selbst fand ihren Erstling alles andere als großartig. Nach Erscheinen der ersten lobreichen Kritiken notierte sie in ihr Tagebuch, das Buch sei "ehrlich, ehrlich schlecht". Dieser falschen Einschätzung setzte ihr damaliger Jugendfreund Friedrich Torberg, der ein Jahr zuvor den gleichen Preis für "... und glauben, es wäre die Liebe" erhalten hatte, noch eins drauf. In ein ihr gewidmetes Exemplar schrieb der spätere "Lebensfeind": "Ritze ratze, voller Tücke für die Kati auf der Brücke".

"Wann ist man eine Frau?"

Der autobiografisch gefärbte Roman beschreibt, wie aus einem jungen Mädchen eine Frau wird. Die Protagonistin Kati, erst 16 Jahre jung, erlebt ihre Verwandlung innerhalb eines Jahres. Auf der Suche nach ihrem Lebensglück wird sie schnell erwachsen, muss sie doch erfahren, dass das "richtige Leben" sie nicht bloß aufklärt über seine realen Gesichter, sondern sie abklärt, ernüchtert, enttäuscht.

Fantasievoll, sensibel und hochintelligent verkörpert Kati ein Mädchen, das alles intensiv erlebt - und das will sie auch. Auf ein Leben "wie ein laues Bad" kann sie verzichten, wünscht sie es sich doch "bunt wie einen Teppich, wild wie ein Meer". Dass es allerdings so wild und vor allem schmerzvoll werden würde, hätte sie nicht vermutet. Noch die Warnung der Mutter im Ohr - "Alle Männer wollen etwas, darauf kommt es an, zuletzt" - wirft sie sich dem Nächstbesten an den Hals, oder besser gesagt, ans Herz. Denn Kati ist zwar voller Sehnsucht nach Wärme, Geborgenheit und Verständnis, doch das körperliche Begehren des jungen Mannes ängstigt sie. Schlussendlich gibt sie nach und sich ihm hin, weil sich das scheinbar so gehört, weil es doch alle Frauen so machen - und sie will doch endlich eine Frau sein, um ernst genommen und für "ganz" gehalten zu werden. Der Preis dafür erweist sich als hoch. Ausgeliefert fühlt sie sich - "nun gehört sie Piet, er kann mit ihr machen was er will". Sie fragt ihn: "Wann ist man eine Frau?" und er antwortet: "Vielleicht, wenn man einen Mann wirklich liebt".

Grenzen aufgrund der Differenz

Während Kati Piet mit jeder Faser ihrer Unerfahrenheit zu lieben glaubt, bringt er ihr nicht viel mehr entgegen als einem Kunstwerk, das man betrachtet. Fasziniert, aber mit Abstand. Von der Schönheit ihrer Tiefe, Vielschichtigkeit und unversehrten "Reinheit" ist er zwar begeistert, gleichzeitig widert ihn ihr Charakter an. Er verachtet sie, weil sie ihm seine eigenen engen Grenzen bewusst macht. Piet ist ein Lebemann, noch sehr jung, aber abgebrüht. Ein unsteter Jäger, der die Abwechslung sucht. Der an der Beute nicht länger Gefallen findet, als sie erlegt ist. Kati quält er mit Spielchen, macht sie runter, belügt und betrügt sie und bricht ihr das Herz.

Doch nicht nur Piet schlägt schmerzvolle Kerben des Frauseins in sie. Da sind noch zwei andere, um vieles ältere Männer, die lüstern auf Kati schauen und sie verfolgen. Sorgen würden sie sich, geben sie vor, behilflich wollten sie ihr sein auf dem beschwerlichen Weg über die Brücke vom Mädchen zur Frau. "Sie sind ja mitten in der Entwicklung", sagt einer, "Sie lernen erst sehen. Es muss Ihnen ja erst einer erklären, was mit Ihnen vorgeht ... Sie stehen auf einer Brücke. Hinter Ihnen gibt es noch Frühling und Dotterblumen auf grüner Wiese. Drüben aber sind Gewitter und Hitzschlag, Abgründe und Höhen ... Und um Ihnen das allmählich vertraut zu machen, um Ihnen den Vorgeschmack auf die Zunge zu zaubern... dazu muss einer da sein, nicht wahr?". Endlich läuft Kati weg. Weit weg vom betrügerischen Piet, weg von den heuchlerischen Anbiederern. Sie lässt alle hinter sich und weiß: "Den ersten Schritt musst du allein tun".

Subtiler Tiefgang

Dass Hilde Spiel bereits in sehr jungen Jahren die Oberflächlichkeit der bürgerlichen Intellektuellenwelt durchschaute und sie subtil und manchmal doppeldeutig aufs Korn nahm, überrascht. Es lässt aber noch mehr staunen, dass sie dabei nicht vor einer allgemeinen Kritik halt machte, sondern dort andockte, wo die gesellschaftlichen Strukturen basieren. Sie zeigte die scheinbaren oder tatsächlich unüberwindbaren Grenzen im Geschlechterverhältnis auf, tiefsinnig, aber nicht anklagend. Neutral formulierte sie die Ansichten der einen Seite genauso wie jene der anderen. Wenn sie Katis Mutter sagen ließ "Du kannst dich nicht einfach freuen, weil einer da ist, der gut zu dir sein will. Nein. Du musst dich zugleich fürchten, denn sehr bald kann Schreckliches, Unbekanntes von dir verlangt werden", dann klingt das genauso objektiv wie die Aussage Piets: "Man ist mit Frauen nicht ehrlich, man liefert sich ihnen nicht aus, man beginnt erst gar nicht mit Entschleierungen, denn das ist der Beginn des Übels". Eindeutig stehen die Sätze da, Schuldzuweisungen gibt es keine. Klares muss nicht erklärt werden.

Biografische Notizen

Und so zeigt sich, dass Hilde Spiel schon früh eine Intellektuelle war. Die Eltern wollten dies zwar tunlichst vermeiden und schickten die Frühreife und sehr Nachdenkliche "aus Furcht, ich könnte allzu gelehrt, allzu versponnen, allzu sehr ein Blaustrumpf werden", in die von Doktorin Eugenie "Genia" Schwarzwald gegründete "Frauen-Oberschule", wo neben humanistischen Fächern und Sprachen auch Kochen, Nähen und Kinderpflege gelehrt wurde. Ausgetrieben konnte ihr das Intellektuelle naturgemäß auch dort nicht werden. Nach der Matura studierte die am 19. Oktober 1911 geborene Wienerin Philosophie und "Völkerpsychologie" (heute Ethnologie und Kultursoziologie) und promovierte 1936. Kurz nach der Publikation ihres ersten Romans trat sie der Sozialdemokratischen Partei bei und blieb Mitglied bis zur Zerschlagung durch die Dollfuss-Regierung 1934.

Ende 1936 emigrierte sie nach London und heiratete dort den Schriftsteller und Journalisten Peter de Mendelssohn. Schreiben wurde nun zum Gelderwerb. Obwohl ihre Beiträge für eine Reihe internationaler Zeitungen und Fachblätter wie den "New Statesman", "Welt", "Guardian", "Weltwoche" und "Theater heute" gefragt waren, haderte sie damit, nicht mehr Zeit für literarische Texte zu haben. Doch die Verantwortung für ihre zwei Kinder und ihr Brotberuf ließen das nicht zu. "Ich schreibe mir die Finger mit den Artikeln wund", hielt sie 1954 fest. Das Gefühl, den "großen Roman" verpasst zu haben, begleitete sie bis zum Tod. Erst 1963 kehrte sie nach Wien zurück und war zuerst Kulturkorrespondentin für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und später Generalsekretärin des österreichischen P.E.N.-Clubs.

Auch in ihrer zweiten Ehe ab 1972 mit dem Schriftsteller Hans Flesch-Brunningen war sie nicht glücklich. Vielmehr wurde "was so lange ein Zusammenleben von einzigartiger Gleichgestimmtheit war, nun zur Hölle. In dem verblendeten Mann (Flesch hatte sich in eine fünfzig Jahre jüngere Frau verliebt) kommt ein Dämon zum Vorschein, den ich nie in ihm vermutet hätte, der mich täglich mehr peinigt, der mir keine Kränkung erspart", notierte sie in ihrem Tagebuch.
Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin starb am 30. November 1990 in Wien. (Dagmar Buchta, dieStandard.at, 6.12.2012)