"In den Kursen erzählen die Lehrenden von einer Welt, in der angeblich die Hälfte der Menschheit alles Bedeutende macht, und die andere Hälfte nicht existiert. Ich fragte mich, wie sie das ohne meine Lebenserfahrung kennen und überprüfen wollen. Das ist einfach Müll. Das ist nicht die Welt, in der ich lebe", so Gerda Lerner gegenüber "The Chicago Tribune" 1993.

Sie starb am 2. Jänner im Alter von 92 Jahren in Wisconsin.

Foto: Heribert Corn

Zuerst war es die Erfahrung, als Jüdin in jungen Jahren durch die österreichischen Nazis vertrieben zu werden, zu einer Emigration in die USA, wo sie dann als Frau "ganz unten" beginnen musste, um überhaupt überleben zu können. Diese Erfahrungen, so schilderte es Gerda Lerner 1991, waren für sie ausschlaggebend, eine feministische Historikerin zu werden. Das soziale Geschlecht begriff Gerda Lerner dabei als grundlegendes Ordnungsprinzip von Gesellschaft überhaupt.

Am 2. Jänner ist Gerda Lerner, US-Historikerin und Pionierin der Frauengeschichtsforschung, im Alter von 92 Jahren in Madison im US-Bundesstaat Wisconsin gestorben. Das berichtet die "New York Times" unter Berufung auf die Universität Wisconsin-Madison, wo Lerner 1990 als Professorin emeritierte.

Späte Anerkennung in Österreich

Werke wie "Die Entstehung des Patriarchats", "Die Entstehung des feministischen Bewusstseins: vom Mittelalter bis zur ersten Frauenbewegung" oder "Frauen finden ihre Vergangenheit" stammen aus ihrer Feder und gehören inzwischen zu den Standardwerken der Frauengeschichtsforschung.

Spät aber doch erkannte man auch in Österreich die Bedeutung der feministischen Historikerin an. 2007 wurde sie mit dem Bruno-Kreisky-Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, 2012 erhielt sie den Frauen-Lebenswerk-Preis der Frauenministerin.

Die am 20. April 1920 geborene Gerda Hedwig Kronstein, wuchs in der Zeit des aufkeimenden Nazi-Regimes und des Austrofaschismus in einer gutsituierten jüdischen Familie in Wien auf. Ihr Vater besaß eine große Apotheke; ihre Mutter war eine unkonventionelle Bohémienne, stets bemüht, sich mit ihren beiden Rollen als Künstlerin und Mutter zu versöhnen. Eine Auseinandersetzung, die die Tochter nicht unberührt ließ. Später (1977) schrieb die Historikerin: "Es ist Teil des Patriarchats, der Frau die Mutterschaft als ihre lebenslängliche und vorrangige Funktion zu indoktrinieren, eine patriarchale Funktion zur Unterdrückung".

Verliebtheit und Realitäten einer Einwanderin

Angetan von marxistischen Ideen, wurde sie schon in jungen Jahren als Antifaschistin politisch aktiv. Doch bald nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich wurde ihr diese Haltung zum Verhängnis: Schon 1938 wurde sie inhaftiert. Ein Jahr später gelang ihr die Flucht in die USA. Dort angekommen, arbeitete sie vorerst als Röntgenassistentin in einem Spital und später als Verkäuferin. Aufgrund ihrer Kritik an ihrer schlechten Bezahlung - ihr Lohn sei unter dem Mindestlohn gewesen - wurde sie jedoch bald wieder gekündigt.

Im Spannungsverhältnis zwischen der Verliebtheit in das Land und der harten Realität des Einwandererlebens begann Lerner zu schreiben. Auch während des Wiederauflebens der Traumata des Ausgegrenztseins in der McCarthy-Ära führte sie ihr politisches Engagement konsequent weiter - auch im Existenzkampf für sich und ihre Familie, denn nach der Heirat 1941 mit Theaterdirektor Carl Lerner galt es, auch zwei gemeinsame Kinder zu versorgen.

"Nicht die Welt, in der ich lebe"

Ihr Interesse an Frauenbiografien und der damit verbundenen Befasstheit mit Geschichte ließen Lerner schnell erkennen, dass das Patriarchat seine Spuren auch in der Geschichtsschreibung hinterlassen hat. In die Annalen der Weltgeschichte sind die Namen von Männern weit häufiger eingegangen als die von Frauen: Gerda Lerner war das stets ein Dorn im Auge.

"In den Kursen erzählen die Lehrenden von einer Welt, in der angeblich die Hälfte der Menschheit alles Bedeutende macht, und die andere Hälfte nicht existiert. Ich fragte mich, wie sie das ohne meine Lebenserfahrung kennen und überprüfen wollen. Das ist einfach Müll. Das ist nicht die Welt, in der ich lebe", so Gerda Lerner gegenüber "The Chicago Tribune" 1993.

Geschichte der Frau etablieren

Ausgestattet mit ihrem Wissen in Geschichte, öffnete Lerner nicht nur die Auffassung, den Blick auf die Gesellschaft, in der Geschichtswissenschaft selbst. Unermüdlich versuchte sie, die Geschichte der Frau als akademische Disziplin zu etablieren. Wobei allein das Fehlen einer angemessenen Terminologie für diese Disziplin für Lerner ein Teil der Ironie war.

1966 wurde sie schließlich an der Columbia University New York zum Ph.D. promoviert. Der Annahme von der universellen Opferrolle der Frauen widersprach sie: Es ging ihr darum, die Teilhabe von Frauen am patriarchalen System zu untersuchen, denn nur mit Hilfe der Frauen könne dieses System so gut und lange funktionieren, war sich Lerner sicher. Gleichzeitig wies sie die Vorstellung vom Matriarchat als kompensatorischen Mythos zurück.

"Verstrickung mit Militarismus, Hierarchie und Rassismus"

Mit der Metapher des Feuerkrauts ("Fireweed"), das nur auf verbranntem Grund wächst, betitelte Lerner ihre 2002 in den USA und 2009 auf Deutsch erschienenen Memoiren über ihre Erfahrungen in Wien und den USA, die sie zu den "Women's Studies" führten.

Sie sah ihre Aufgabe darin, nach den historischen Wurzeln der Frauenunterdrückung zu fragen, die, weil sie eben eine historisch gewachsene und kulturell bedingte ist, auch wieder veränderbar sei. Das System des Patriarchats als historisches Konstrukt habe einen Anfang und es würde auch sein Ende haben, war sich Lerner sicher. "Seine Zeit scheint zur Neige zu gehen - es dient nicht länger den Bedürfnissen von Männern oder Frauen, und seine unauflösliche Verstrickung mit Militarismus, hierarchischer Strukturen und Rassismus ist eine unmittelbare Bedrohung für den Fortbestand des Lebens." (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at, 4.1.2013)