"Man wird erst wissen, was die Frauen sind, wenn ihnen nicht mehr vorgeschrieben wird, was sie sein sollen": Rosa Mayreder auf einer Fotopostkarte, aufgenommen anlässlich ihres 70. Geburtstags 1928

Foto: Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 218360

"Die Frau ist für den Mann da." Mit dieser Wertvorstellung ihres Vaters wuchs Rosa Mayreder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien auf. Gemeinsam mit 12 Geschwistern, der Vater hatte nach dem Tod der Mutter wieder geheiratet, lebte sie in einem fünfstöckigen Wohnhaus über dem gutgehenden väterlichen Gasthaus in der Landskrongasse. Als Tochter aus bürgerlichem Haus fehlte es ihr an nichts - bis auf Wissen, mit dem sie ihren unendlichen Bildungshunger hätte stillen können: "Wenn meine Schwestern es als etwas Selbstverständliches hinnahmen, daß die Söhne der Familie in Hinsicht auf Bildungsmöglichkeiten die größte Bevorzugung genossen, so fühlte ich eine beständig wachsende Empörung darüber", schrieb sie später.

Schon als Kind prangerte Mayreder deshalb die vorherrschende Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern an. Sie erreichte bei ihrem Vater, mit ihren Brüdern Griechisch und Latein lernen zu dürfen. Mit 18 weigerte sie sich, weiterhin ein Korsett zu tragen, was erneut den Unmut ihrer Umgebung erregte. "Meine geistige Entwicklung fällt in eine Zeit, in der die bürgerliche Familie noch völlig unter der Herrschaft unangetasteter Traditionen stand. Die Auflehnung dagegen bildete im Bereich meines persönlichen Schicksals das entscheidende Erlebnis", erinnerte sie sich.

Kindheitserlebnisse als Weichenstellung

Die Erfahrungen und Erlebnisse als Mädchen im patriarchalen Haushalt ihrer Kindheit und die mangelnde bürgerliche Mädchenerziehung stellten die Weichen für Rosa Mayreders Engagement in der ersten Frauenbewegung und legten den Grundstein für ihre noch heute vielgepriesenen, scharfsinnigen feministischen Essays.

"Rosa Mayreder hat sich ein Weiterleben ihrer Werke nach ihrem Tod gewünscht", sagt ihre Biografin Hilde Schmölzer. Und auch ihre Tagebücher, die heute als Teil ihres Nachlasses in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus aufbewahrt werden, führte die Essayistin in der Vorstellung, dass "einst, wenn ich nicht mehr bin, unbekannte Herzen wissen und teilen werden, was ich gelitten habe", so die Wienerin 1914.

Heute wie damals aktuell

Mayreders Wunsch hat sich erfüllt: Ihre radikalfeministischen Schriften wie Lebenserinnerungen und Tagebücher werden nach wie vor mit Interesse gelesen und sind immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.

So analysierte 2011 etwa Historikerin Brigitte Semanek, Mitarbeiterin in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, auf welche Weise Politik im Tagebuch von Rosa Mayreder in der Zwischenkriegszeit erscheint. "Sie war eine sehr geübte, wortgewandte Schreiberin und eine scharfe Beobachterin bis ins hohe Alter", sagt Semanek. "Die Schilderung von alltags- und weltpolitischen Ereignissen zieht sich durch ihre Tagebücher wie durch ihre Briefe, abwechselnd mit persönlichen Erlebnissen, Überlegungen und Empfindungen. Mayreders politische Ansichten wie ihr Streben nach Individualität und ihre kritische Haltung zur Sozialdemokratie sind in ihrem Wandel über die Jahre zu beobachten."

Germanistin und Coach Ute Berghammer-Stadlmann untersuchte 2009 Glückskonzeptionen in weiblichen Lebensentwürfen unter anderem anhand von Texten Rosa Mayreders. "Mayreder hat sich nicht durch äußere Gegebenheiten einschränken lassen, sondern weiterentwickelt und ausgedrückt. Ihre sprachgewaltigen Texte sind deshalb noch so relevant, weil sie Pioniergeist, Umbrüche und neues Denken fordern und Normen hinterfragen", so Berghammer-Stadlmann. "Sie zeugen von einem brillianten, messerscharfen Verstand und fordern eine visionäre Gesellschaft, die an Erneuerung appelliert, was heute wieder aktuell ist."

Mehr Theoretikerin denn Aktivistin

Von Beginn ihres Engagements in der Frauenbewegung an sah sich Rosa Mayreder mehr als Theoretikerin, denn als Aktivistin. Das Schreiben lag ihr mehr als das Sprechen und Agieren in der Öffentlichkeit. 1897 wurde sie neben Auguste Fickert und Marie Lang Vorstandsmitglied des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins (AÖFV), der den radikalen Zweig der bürgerlichen Frauenbewegung vertrat. Seine Mitglieder setzten sich unter anderem für bessere Bildungs- und Berufschancen, für das Frauenwahlrecht und gegen Prostitution als Ausbeutung von Frauen ein.

Ab 1899 gaben die drei die Zeitschrift "Dokumente der Frauen" heraus, die sich mit Fragen der beruflichen Gleichstellung, Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten, Rechts- und Erziehungsfragen beschäftigte. Grobe Unstimmigkeiten führten jedoch zum Zerwürfnis zwischen den Zeitungsmacherinnen, Mayreder trat 1899 mit Fickert als Herausgeberin zurück und 1903 schließlich auch aus dem Verein aus.

Forderung nach Veränderung

In den Folgejahren konzentrierte Rosa Mayreder sich ganz auf die Schriftstellerei. Ihre Werke "Zur Kritik der Weiblichkeit" (1905) und "Geschlecht und Kultur" (1923) zählen heute zu den wichtigsten Schriften der ersten Frauenbewegung.

Anders als ihre Zeitgenossin Marianne Hainisch, die für den gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung stand, brachte Mayreder in ihren Essays offen ihre Forderung nach Veränderung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zum Ausdruck. Als eine der Ersten vertrat sie die damals revolutionäre Ansicht, dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht von der Natur, sondern von gesellschaftlichen Normen bestimmt ist. "Die lustbetonte Vorstellung ist nicht diejenige des Dienens auf der einen und des Herrschens auf der anderen Seite, sondern die Vorstellung der Gleichheit", war Rosa Mayreder überzeugt.

Mayreder war schon um die 50, als Frauen gerade einmal studieren durften. 1918, als sie sechzig wurde, erlangten Frauen endlich das allgemeine Wahlrecht. "Wenn man sich vorstellt, in welcher Zeit und unter welchen gesellschaftlichen Umständen sie agiert hat, wird ihre Vorreiterrolle noch offensichtlicher", sagt Biografin Hilde Schmölzer

Politische Umbrüche

In ihren späten Lebensjahren engagierte sich die Schriftstellerin in der Friedensbewegung und pflegte aufopfernd ihren psychisch kranken Mann Karl Mayreder, mit dem sie seit 1881 verheiratet war. Sie schrieb weiterhin philosophische Essays und kritische Beiträge, hielt Vorträge und brachte mit Marianne Hainisch 1936 eine Friedensbroschüre für die Jugend heraus.

Die politischen Umbrüche in den 1930er-Jahren verfolgte Rosa Mayreder mit Sorge, auch wenn sie sich offiziell mit persönlichen Äußerungen zur Politik zurückhielt. Der Sozialdemokratie konnte sie, als christlichsozial gesinnte Bürgerliche, zeitlebens nur wenig abgewinnen. Nach dem Aufstand der Sozialdemokraten im Februar 1934 stand sie auf der Seite der Regierung, den autoritären Kanzler Dollfuß verteidigte sie gegenüber Angriffen ihrer Freunde. "Sie hat nicht erkannt, dass durch die Unterdrückung der Sozialisten das wirksamste Gegenmittel gegen den Nationalsozialismus beseitigt wurde. [...] Die Verteidigung demokratischer Werte, für die die Sozialdemokratie stand, hatte für sie wenig Sinn, weil sie nicht daran glaubte", beschreibt Schmölzer Mayreders Einstellung in ihrer Biografie.

Rückzug nach innen

Gegen Ende ihres Lebens schottete sich Rosa Mayreder zunehmend von der Außenwelt ab und zog sich in ihre eigene, innere Wirklichkeit zurück. Sie war noch schriftstellerisch aktiv, litt aber zunehmend an Gedächtnisschwäche.

Am 19. Jänner 1938, zwei Monate vor dem Einmarsch Hitlers in Österreich, starb Rosa Mayreder in Wien an einem Schlaganfall. "Sie war ein Kind ihrer Zeit und gleichzeitig visionäre Pionierin", sagt Hilde Schmölzer. "Der Widerspruch zwischen bürgerlichen Wertvorstellungen und ihren feministischen, zukunftsweisenden Utopien, die sich damit nicht in Einklang bringen ließen, hat ihr ganzes Leben geprägt." (isa, dieStandard.at, 17.1.2013)