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Rainer Brüderle brachte das Fass zum Überlaufen. Ein weiteres Mal.

Foto: Reuters/RALPH ORLOWSKI

Überall ist dieser Tage von "Alltags-Sexismus" die Rede. Seit Freitag früh der Hashtag #aufschrei auf Twitter (diestandard.at Berichtete) die (große) Runde machte, schließen sich traditionelle Medien rege an; im ORF berichtete am Freitag die "Spät-ZiB" darüber, die "Süddeutsche" widmete sich am Wochenende dem Schwerpunkt "Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz", und auch am Cover der "Presse am Sonntag" war das Thema "alltägliche Diskriminierung" zu finden. Anlass für die Twitter-Kampagne war ein "Stern"-Porträt, in dem die Journalistin Laura Himmelreich darüber berichtete, wie sie vor einem Jahr vom derzeitigen FDP-Spitzenkandidaten Rainer Brüderle sexuell belästigt wurde.

Es war die übliche sexistische Alt-Herren-Nummer: vom "Dirndlausfüllen" sprach Brüderle, inklusive Blick ins Dekolletee, berichtete Himmelreich. Jede Frau hat so etwas in mehr oder weniger abgewandelter Form schon erlebt. Eigentlich ein Skandal, dachten sich die Bloggerinnen Nicole von Horst (@vonhorst) und Anne Wizorek (@marthadear). Und mit ihrer Aktion #aufschrei schafften sie es tatsächlich, zu skandalisieren, was eigentlich niemanden mehr interessiert.

Social-Media-Kanäle geschickt genutzt

Denn: Eine weitere Statistik über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hätte wohl keineN hinter dem Ofen hervorgelockt. Und wenn über konkrete Fälle berichtet wird, bei denen die Arbeiterkammer oder Gleichbehandlungsstellen Schadenersatz (diestandard.at berichtete) erstritten haben, hagelt es in Foren die übliche Häme für die Belästigte, inklusive Verharmlosung der Vorfälle.

Dass über Social-Media-Kanäle durch die Initiative einiger weniger sexuelle Belästigung und Alltagssexismus breit - und über den verhältnismäßig kleinen Twitter-Kreis hinaus - diskutiert wird, ist eine große Chance. Auch zahlreiche andere feministische Kampagnen haben diese digitalen Möglichkeiten bereits intensiv und höchst erfolgreich genutzt: Die ukrainische Frauengruppe Femen ist auf Twitter und Facebook äußerst aktiv, und unter dem Hashtag #ichhabenichtangezeigt wurden vergangenes Jahr zahlreiche Gründe von Frauen gesammelt, warum sie einen sexuellen Übergriff nicht angezeigt hatten. Auch die Slut-Walk-Bewegung gegen sexuelle Belästigung und Gewalt und deren Verharmlosung mobilisierte intensiv übers Netz.

Gedämpfte Erwartungen

Feministinnen haben dieses digitale Instrument also längst entdeckt und nutzen es auch geschickt. Das ist natürlich gut, doch dämpft es auch die Euphorie und die Erwartung, dass der jüngste Coup einschneidende Veränderungen bewirken wird. Auch die Berichterstattung selbst holt eine wieder auf den Boden der Tatsachen: In der "Süddeutschen" rät eine Ärztin, im Falle einer Belästigung "die narzisstischen Bedürfnisse der Männer nicht zu verletzen", und laut einer Journalistin von "Die Welt" geht es bei der Aufregung um Brüderle eh nur darum, den Opfer-Diskurs zu bedienen.

Es wird sich also zeigen, ob uns der #aufschrei weiterbringt. Nachhaltige Veränderung brächte jedenfalls der Blick auf das eigene Handeln und den eigenen Alltag: Die Wortwahl "zickig" oder "stutenbissig" einfach mal stecken lassen, Reflexe, feministische Kritik per se zu diskreditieren oder deren Relevanz als "PC-Terror" abzustempeln, ausnahmsweise mal ruhen lassen, das Aussehen von Frauen zur Abwechslung unkommentiert lassen, sich den Blick auf Busen oder Hintern einer vorbeigehenden Frau sparen und, und, und. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 29.1.2013)