"Der Umgang mit Flüchtlingen betrifft uns alle. Man muss also eine StellvertreterInnenrolle einnehmen. Das heißt, ich schicke niemanden hin, sondern ich gehe hin anstelle des Flüchtlings", sagt Grace Marta Latigo.

Foto: Regine Hendrich

Die Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche fühlen sich im Stich gelassen. Seit Dezember dauert ihr Protest an, bisher haben sie noch nichts erreicht. Inzwischen wurden sogar zwei Aktivisten nach Ungarn abgeschoben. Die Lage ist prekär. Auch in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich formieren sich Geflohene, um ihren Unmut über die europäische Asylpolitik auf die Straße zu tragen. Doch egal in welchem Land sich ein Flüchtlingsprotest bildet, die Bewegung besteht beinahe ausschließlich aus Männern. Wo sind die geflohenen Frauen?

Grace Marta Latigo weiß, wo die Frauen sind und warum sie nicht in Erscheinung treten. Sie ist seit Mitte der 1990er Jahre in der österreichischen Flüchtlingsszene aktiv, bezeichnet sich als "Kriegerin" und ist vielen WienerInnen durch ihre Brandreden bei antirassistischen Kundgebungen bekannt. Geprägt durch die Erfahrung staatlicher Repression ("Operation Spring", siehe Wissen) nach dem Tod Marcus Omofumas im Jahr 1999 schildert sie im Gespräch mit dieStandard.at ihre Befürchtungen für den laufenden Protest. Sie ortet eine zu schwache gesellschaftliche Loyalität mit den Flüchtlingen: Ohne breites Bündnis sei der Flüchtlingsprotest "ein Zocken, ein Spiel mit dem Leben anderer", sagt Latigo.

dieStandard.at: Sie sind seit 1995 in der Flüchtlingsbewegung aktiv. Wie sehen Sie den jetzigen Protest in der Votivkirche?

Latigo: Ich gehöre zu jenen Aktivistinnen, die nach der Ermordung von Marcus Omofuma bei Protestaktionen dabei waren und diese teilweise mitorganisiert haben. Wir haben damals Widerstandsstrategien entwickelt, Aktionismen, denen der Staat mit heftiger Repression begegnete.

Wir gingen damals ohne ausreichende Unterstützung trotzdem auf die Straße. Die Polizeiaktion "Operation Spring" entstand, weil zirka 3.000 AfrikanerInnen ihren Unmut auf die Straße brachten. Unsere Community hat das durch die Staatsgewalt stark zu spüren bekommen. Wir wurden quasi gejagt. Unter den AfrikanerInnen, die in Polizeigewahrsam genommen wurden, kam es dann zu Suiziden und Herzinfarkten. Insgesamt waren dann in den darauffolgenden Jahren etwa 20 Leute weg.

dieStandard.at: Ihre Befürchtung ist, dass sich Ähnliches wiederholt?

Latigo: Ich kritisiere am derzeitigen Protest vor allem den intellektuellen Rassismus und meine, dass der ziemlich tief sitzt. Das heißt, niemand scheint durchgehend integer zu sein, aber alle äußern sich zum Protest. Und die Wiederholung des Jahres 1999 findet bereits statt: Flüchtlinge werden inzwischen herausgenommen und abgeschoben. Deshalb glaube ich, dass der Protest, so wichtig er auch ist, insgesamt unüberlegt ist.

In anderen europäischen Ländern stehen breite Bündnisse hinter den Geflohenen und Asylsuchenden. Man kann geflohene Leute nicht, ohne sie breit zu unterstützen, auf die Straße schicken.

dieStandard.at: Wie müsste dieses Bündnis aussehen?

Latigo: Einheimische, und zwar MindestpensionistInnen, alleinstehende Mütter, Jugendliche: Man muss diesen Menschen erklären, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Der Umgang mit Flüchtlingen betrifft uns ja alle. Man muss also eine StellvertreterInnenrolle einnehmen. Das heißt, ich schicke niemanden hin, sondern ich gehe hin anstelle des Flüchtlings.

dieStandard.at: Die Flüchtlinge in der Votivkirche haben doch UnterstützerInnen. Die Medien scheinen zwei Gruppen zu unterscheiden: auf der einen Seite die scheinbar legitime Hilfe durch Beten für das Asylrecht, Suppenkochen oder Deckenbringen, auf der anderen Seite die illegitime Hilfe, jene Personen, die etwa Frontex oder das Dublin-II-Abkommen kritisieren.

Latigo: Gespalten werden auch sie, ja. Insgesamt gibt es aber kein Interesse der Bevölkerung, diesen Menschen zu helfen. Medial wird eine Realität propagiert, die mit der migrantischen Realität in Österreich nichts zu tun hat.

dieStandard.at: Wie kann vor diesem Hintergrund so etwas wie Solidarität entstehen?

Latigo: Die Solidarität ist die Loyalität. Ohne wirkliche Loyalität mit den Flüchtlingen ist das ein Spiel, ein Zocken mit dem Leben anderer. Wir müssen also an ihrer Stelle gehen: die Gewerkschaften, die Frauenorganisationen, die Magistratsabteilung 48, die Krankenschwestern und all jene, die in dem System auf der VerliererInnenseite stehen. Das System fickt uns doch alle. Derzeit sind es zu wenige, und deshalb riskieren die Flüchtlinge eigentlich ihr Leben. Mit der Erfahrung der "Operation Spring" im Hinterkopf tut mir das weh.

dieStandard.at: Sie sprechen dem bestehenden Protest seine Wirksamkeit ab.

Latigo: Nein. Aber es gibt bestehende Strukturen rund um die Flüchtlingsszene, die genutzt werden müssten. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Auf bestehende Strukturen wird hier aber kaum zurückgegriffen, stattdessen werden immer mehr neue Initiativen gegründet, die im Prinzip immer die gleichen sind. Das ist ein Bündnis? Alles ist das Gleiche.

dieStandard.at: Auffallend an der Protestbewegung ist, dass sich fast ausschließlich Männer engagieren. Warum sind Frauen in der Protestbewegung so unterrepräsentiert?

Latigo: 2004 habe ich mit Ute Bock das erste Mal einen richtigen Einblick bekommen in die katastrophale Situation von geflüchteten Frauen. Egal aus welchen Gründen sie geflüchtet sind, sie unterstehen auch immer einer geschlechtlichen Rangordnung und sind also mehrfach diskriminiert. Sie haben oft mehrfachen Missbrauch erlebt. Dass sie nicht in Erscheinung treten, hat mit Isolation durch Hierarchien zwischen den Geschlechtern und mit Angst zu tun. Sie verstecken sich.

dieStandard.at: Damit sind sie in ihrer Vereinzelung in einer sehr speziellen Situation. Wie kann man sie da herausholen?

Latigo: Ich berufe mich auf Angela Davis (US-Bürgerrechtlerin, Anm.) und plädiere an die weißen Schwestern: Wir müssen uns auf ein Packerl hauen. Bis auf ein paar PatriarchatsvorarbeiterInnen sind alle Frauen von Diskriminierung betroffen. Diese müssen sich zusammenschließen. Das, was uns im Namen der angeblichen Emanzipation an Aufgaben aufgelagert wird, geht sich ja für niemanden von uns aus. Auch hier gilt: Wir sitzen alle im gleichen Boot.

dieStandard.at: Auf der einen Seite heißt es, es ist gut, wenn die Flüchtlinge für sich selbst sprechen, auf der anderen Seite meinen Sie, die Einheimischen sollten das aus Loyalität mit den Betroffenen tun. Wer darf oder soll hier also sprechen?

Latigo: Als ich nach Österreich kam, habe ich immer für mich gesprochen. Es ist schon gut, wenn die Betroffenen für sich sprechen, aber sobald in Österreich Widerstand gegen die Staatsgewalt ins Spiel kommt, braucht es ganz breite Unterstützung. Wir müssen hier sehr vernünftig agieren, überlegt handeln, strategisch vorgehen, um keine Kopie der "Operation Spring" zu werden. (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at, 10.2.2013)