Wer unter Angstzuständen leidet, muss nicht unbedingt krank sein. Es können auch sinnvolle Reaktionen auf persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse sein, meint die Beraterin und Philosophin Bettina Zehetner. Sie arbeitet seit 13 Jahren bei der Frauenberatungsstelle "Frauen beraten Frauen" in Wien und holt sich immer wieder Anregungen aus der feministischen Theorie Judith Butlers für ihre tägliche Beratungstätigkeit. In ihrem Buch "Krankheit und Geschlecht" (erschienen 2012 bei Turia + Kant) führt sie aus, warum "Frau-sein" potenziell krank machen kann und wie es möglich ist, in der Beratung spröden Poststrukturalismus für Erkenntnisprozesse und mehr Handlungsfreiheit zu nützen. Ein Gespräch über die Herausforderung im Leben, die Ambivalenz zwischen Normunterwerfung und Individualitätsdiktat zu ertragen.
dieStandard.at: Sie arbeiten in einer psychosozialen Frauenberatung. Mit welchen Problemen kommen die Frauen hauptsächlich zu Ihnen?
Bettina Zehetner: In den allermeisten Fällen beschäftigen Frauen Beziehungskonflikte bzw. die Trennungsthematik. Daraus ergeben sich dann ganz viele andere Themen – Beruf, Kinder, Weiterbildung, körperliche Beschwerden, Depression, Ängste.
dieStandard.at: Bemerken Sie eine Veränderung der Krankheitsbilder in den letzten zehn Jahren?
Zehetner: Unser Eindruck ist, dass der ökonomische Druck auf Frauen immer stärker wird. Immer mehr Akademikerinnen kommen zu uns, weil sie sich keine Therapie am freien Markt leisten können.
Dass der psychische und der ökonomische Druck auf Frauen steigt, ist ganz sicher. Die Frauen wollen mehr und unterschiedlichsten Ansprüchen und Rollen genügen, das wird schwer. Das Klischee vom neoliberalen Druck – das bewahrheitet sich bei uns hier in der Beratung.
dieStandard.at: Was raten Sie den Frauen, um sich aus dieser Normenfalle auch in Bezug auf den Körper zu befreien?
Zehetner: Für einen zentralen Aspekt halte ich Distanz zu schaffen zu diesen Normen. Klar ist, wir können uns nicht vollkommen davon befreien, das ist auch auf gewisse Weise gut. Butler sagt ja auch, dass uns Normen begründen und wir könnten nicht ohne Normen existieren. Aber wir haben auch die Freiheit, sie zu gestalten und sie uns anzueignen.
Da fällt mir als erstes immer Humor ein – die Überzeichnung und Parodie von Normen wirkt meist befreiend. Die Bilder von der friedfertigen oder schönen Frau zu karikieren macht bei den Frauen ein bisschen den Kopf frei für die Frage: Muss Frau-sein wirklich genau so verkörpert werden, oder geht es vielleicht auch ein Stück anders, verschoben? Es geht also nicht um eine Abschaffung von Normen, sondern um eine möglichst eigenwillige Deutung und Aneignung dieser Normen.
dieStandard.at: Manche Frauen erkämpfen sich Freiräume, etwa wenn sie ihre grauen Haare nicht färben und damit zufrieden sind. Sobald ihnen dann aber etwas passiert, sagen sie: die grauen Haare müssen weg. Entspricht das Ihrer Beratungserfahrung?
Zehetner: Frauen werden dazu sozialisiert, ihren Körper präsentabel zu machen und sich dadurch auch ein gewisses Stück Sicherheit zu holen. Die eigenwillige Selbstgestaltung des Körpers, das Spielen damit, beispielsweise eine neue Frisur oder Haare färben, kann aber auch unterstützen, z.B. in den Zwischenphasen zwischen altem und neuem Leben bei Trennungen.
Ich würde mir wünschen, dass Frauen mit solchen Schönheitsstandards mehr spielen und sich auch nichts verbieten lassen. Frauen wollen immer alles richtig machen. Sie wollen die richtige Entscheidung treffen, eine richtige Mutter sein, richtig Karriere machen. Es gibt aber nicht das einzig Richtige, es gibt so viele Möglichkeiten, aber auch Fehlschläge, die eben auch da sind. Wichtig finde ich, für sich Freiräume zu schaffen, soweit es halt geht. Und nicht den Anspruch haben, ich bin ganz frei von diesen Normen.
dieStandard.at: Wie passt dieser Wunsch, alles richtig machen zu wollen, damit zusammen, dass unsere Gesellschaft den Individualismus und damit das "außerhalb der Norm stehende" so hoch hält?
Zehetner: Man kann sagen, in persönlichen Krisenzeiten verstärkt sich das Bedürfnis nach der Norm und dem Richtigmachen. Und grundsätzlich ist die gesellschaftliche Ausgangssituation sehr ambivalent. Im modernen Selbstverhältnis kommt ja auch noch dazu: Ich muss mich selbstverwirklichen, als Frau eigenständig sein und meinen eigenen Weg gehen. Das quält viele Frauen ja auch so, die Frage danach, ob sie etwas Besonderes in ihrem Leben vorzuweisen haben.
So gesehen kann dieser Anspruch auch zur Falle werden, wenn er zum Zwang wird: Ich muss etwas unbedingt tun, um authentisch zu sein. Die Befreiung des Wesens oder der Sexualität – das sind alles Mythen, die uns beschäftigen sollen. Oft geht es im Leben halt darum, die Baustellen, die gerade anstehen, zu bearbeiten und ohne gröbere Selbstschädigungen damit durchzukommen. Am Ende eines Beratungsprozesses wissen viele Frauen einfach: Es kann sich nicht alles ausgehen. Ich muss mich nicht diesem Erfolgsdruck beugen.
dieStandard.at: Sie beschäftigen sich in ihrem Buch mit der hysterischen Konversion, den Essstörungen und dem selbstverletzenden Verhalten. Werden diese besonders von gesellschaftlichen Normen ausgelöst?
Zehetner: So scheint es mir. In Krankheitsformen materialisieren sich ja auch Geschlechterkonzepte und in diesen Krankheiten werden überzeichnete Weiblichkeitsklischees dargestellt.
dieStandard.at: Gibt es denn auch Krankheiten, wo sich Männerklischees zeigen?
Zehetner: Auf jeden Fall. Männer sind viel mehr von Suchterkrankungen und Alkoholismus betroffen als Frauen. Interessant in diesem Zusammenhang ist das selbstverletzende Verhalten, das ja eigentlich fast ausschließlich bei Mädchen und Frauen auftritt. Untersuchungen in Gefängnissen haben aber gezeigt, dass sich männliche Insassen auch sehr oft selbst verletzen. Offenbar tritt bei begrenzter Freiheit, der Erfahrung von starren Strukturen und dem Gefühl von Hilflosigkeit dieses Verhalten auch bei Männern auf.
dieStandard.at: Butler ist für ihre Theorie berühmt geworden, dass wir alle Geschlecht in unzähligen Gesten, Sprechweisen und Inszenierungen immer wieder neu "aufführen". Wie greifen Sie das Konzept in ihrer Beratung auf?
Zehetner: Ein gutes Beispiel, das ich zur Veranschaulichung in der Beratung verwende, ist der Damenschuh. Der hat ja nichts mit weiblicher Anatomie zu tun. Das ist tatsächlich Inszenierung, Kultur, vielleicht auch ein Spiel damit. Bei den Klientinnen macht es hier meistens Klick, was ich mit Inszenierung von Geschlecht meine und dass sie selbst auch ihre Weiblichkeit herstellen, indem sie sich so und so mit ihrem Ehemann, Kollegen, usw. verhalten.
dieStandard.at: Warum wirkt es gesundheitsfördernd, wenn sich Menschen nicht geschlechterrollenkonform verhalten?
Zehetner: Von Butler her kommend ist die Kategorie Geschlecht ja für beide Geschlechter extrem einschränkend, weil es auf dieses Entweder-Oder abzielt. Die befreiende Perspektive wäre eben, sich nicht in dieses Entweder-Oder verstricken zu lassen. Das soll nicht heißen, dass jedes Geschlecht das andere werden soll, sondern sich einfach nur die Freiheit nehmen, auch als Frau "unweiblich" und als Mann "unmännlich" zu agieren.
dieStandard.at: In einem gewissen Umfeld wird nicht-konformes Verhalten aber auch in die Isolation führen.
Zehetner: Die Sanktionen sind da natürlich noch nicht mitgedacht, das ist ein wichtiger Punkt. Die tollen Freiheiten stoßen ja immer wieder an die Grenzen der Anerkennung von Anderen bis hin zu "Hate Crimes". Es geht also in der Beratung nicht um Verhaltensanweisungen. Jede Person muss genau schauen, was für sie in ihrem Umfeld passt. Fest steht: Wir sind alle auch abhängig von der Anerkennung anderer.
dieStandard.at: Die britische Soziologin Angela McRobbie spricht in ihrem Buch "Top Girls" von Melancholie, um zu beschreiben, wie Frauen unter dem Verlust einer feministischen Perspektive im Privaten beispielsweise an Ängsten oder Essstörungen leiden. Was sagen Sie dazu?
Zehetner: Ich finde ihre These sehr spannend. Von Freud nimmt sie die Bestimmung von Melancholie als Nicht-loslassen-können von etwas, das ich verloren habe, dessen ich mir aber nicht ganz bewusst bin. Melancholie ist auch ein Stück weit verweigerte Trauer. Letztere ist ja irgendwann einmal abgeschlossen und ich kann in meinem Leben weitergehen, die Melancholie hält mich hingegen fest, die lähmt mich. In der Beratung könnte man sagen, dass ungelebte Möglichkeiten für viele Frauen schon etwas Melancholisches haben.
dieStandard.at: Hieße das im Umkehrschluss, dass die Identifikation mit einem politischen Kollektiv heilend wäre?
Zehetner: Die These klingt sehr utopisch, das gefällt mir gut. In Frauengesprächsrunden hier stellen wir schon fest, dass es einen großen Rückhalt und Stärke bietet, wenn Frauen klar wird, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind. Diese Erfahrungen haben eben Ursachen, die man zum Beispiel am Machtgefälle zwischen den Geschlechtern festmachen kann: Lohngefälle, Arbeitsverteilung, Wertschätzung. Das ist entlastend und stärkend. Aber die meisten Frauen in den Gruppen würden diese Erkenntnis vermutlich nicht als feministisch bezeichnen. Die Abwehr gegen diesen Begriff ist ja immer noch weit verbreitet. (Ina Freudenschuß, dieStandard.at, 17.2.2013)