Im noblen Viertel am Südhang des Lykavittós: Zwei Schlafstätten.

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Leben auf der Straße: Tsaldári Panághi, in der Nähe von Omónia.

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Zwischen Sýntagma-Platz und der Nationalbibliothek: Panepistimiou. Eine um Geld bittende Frau.

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Die Ermoú liegt im Dreieck von Sýntagma-, Monastiràki- und Omónia-Platz.

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Obdachlos zwischen Gucci, Prada und Ralph Lauren.

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Theanó M. steht mit rund 150 Menschen vor einem Gebäude in der zentralen Sofokelous-Straße in Athen, aus dem es nach Suppe riecht. Sie haben Hunger. Für einige von ihnen gibt es in dem Gebäude auch einen Schlafraum mit Betten und die Möglichkeit zu duschen. Die meisten aber müssen sich einen Platz zum Schlafen irgendwo unter freiem Himmel suchen. Ist es überhaupt möglich, im Lärm der 650.000-EinwohnerInnen-Stadt zu schlafen? "Óchi", nein, sagt Theanó. Der Lärm sei aber das geringere Problem. In den vergangenen Wintermonaten war es vor allem die Kälte, die ihr zu schaffen machte.

Angeregt unterhalten sich einige in der Menschenschlange, andere lesen die Zeitung. Zu lesen bekommen die GriechInnen in diesen Tagen, dass PolitikerInnen in ganz Europa erleichtert durchatmen: Griechenland bleibt Teil der Eurozone. Für die AthenerInnen kein Grund zum Jubeln, wohl eher Zynismus, denn die drastischen Einsparungen, die lahmende Konjunktur und die taumelnde Wirtschaft schlagen tiefe Wunden in die griechische Gesellschaft: Mitten in Europa ist der Hunger zurückgekehrt.

Unter den Privilegierten

Selbst bei frühlingshaften Temperaturen trägt Theanó noch wärmende Winterpullover. Ihre warme Felljacke und ihr anderes Hab und Gut fährt sie in einem Einkaufswagen durch die Straßen. "Die Situation ist nun gerade so, dass ich nirgends wohnen kann und auf der Straße leben muss", sagt Theanó. Rechtsanwältin wollte sie werden, doch das Studium war ihr zu langwierig und kostspielig. Sie begann bei einem Scheidungsanwalt als Sekretärin zu arbeiten.

"Aber wer kann sich in Zeiten der Krise schon eine Scheidung leisten?", fragt sie, während sie hastig ihre Suppe löffelt. Jetzt, als 49-Jährige, schläft sie in einer Seitenstraße zwischen der Akademias und der Skoufa, einige Kartons dienen ihr als Schlafunterlage und schützen vor der Bodenkälte. Sie hat sich das Reichenviertel der griechischen Metropole ausgesucht. "Wenn einem dort jemand Geld gibt, dann sind es wenigstens Scheine." Außerdem, erklärt Theanó, gehöre sie zu den Privilegierten: "Ich besitze einen Schlafsack, im Unterschied zu anderen hier." Arbeitslos wurde sie vor eineinhalb Jahren. Ihr Erspartes ging für die Miete, für Strom und Heizkosten auf – bis sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte.

"Neo Astegos": Die neuen Obdachlosen

Theanó M. gehört zu jenen, die man in Griechenland "Neo Astegos" nennt: die neuen Obdachlosen. Menschen, die vor wenigen Jahren in der sogenannten Mittelschicht lebten, durch die Krise zuerst ihre Arbeit und dann ihre Existenz verloren haben. Jüngeren Berechnungen zufolge werden in Griechenland pro Tag 1.000 Erwerbstätige gekündigt. War im Jahr 2008 jede elfte Frau arbeitslos, ist es jetzt jede dritte. Schnell verlieren sie dann ihr Dach über dem Kopf. Denn das Arbeitslosengeld wird in Griechenland unabhängig vom bisherigen Einkommen in einer Höhe von 360 Euro für maximal ein Jahr ausbezahlt. Dann ist Schluss. Der Staat zahlt keinen Notstand, keine Mindestsicherung, nichts.

Nicht nur das beinahe zerstörte Sozialsystem nimmt den GriechInnen die Luft zum Atmen. Um nicht bankrottzugehen und um die internationalen Geldgeber zu befrieden, fährt die griechische Regierung einen harten Sparkurs. So wurden innerhalb von nur drei Jahren einige Kollektivverträge abgeschafft, Betriebe geschlossen, Löhne – vor allem im öffentlichen Sektor – und Pensionen drastisch gekürzt, Krankenhauspersonal entlassen, Staatseigentum privatisiert, Massensteuern erheblich erhöht und Schulen im großen Stil geschlossen. Zwischen 2010 und 2012 ist das reale Durchschnittseinkommen um 45 Prozent gesunken und Griechinnen sind dabei mit einem durchschnittlich 22 Prozent niedrigeren Lohn als ihre Kollegen per se in einer schwierigeren Ausgangslage.

Verändertes Stadtbild

Inzwischen sind allein in Athen zwischen 250.000 und 280.000 Menschen von Suppenküchen abhängig. Die Zahl der Obdachlosen stieg in Griechenland seit Beginn der Krise um 30 Prozent, gab die Regierung bekannt. In Athen dürfte es sich um ein Vielfaches handeln: Mehr als 20.000 AthenerInnen leben unter freiem Himmel. Neu daran sind der drastische Anstieg und der hohe Frauenanteil.

Sichtbar werden die Folgen dieser Politik beinahe an allen Ecken Athens: "Das Stadtbild hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert", sagt Areti Dimou, die bis vor zwei Jahren im Ministerium arbeitete und seither von ihrem Ersparten lebt. Wie sehr die Krise die Frauen trifft, zeigt sich rund um den zentralen Omónia-Platz. Hier florieren nicht nur Pfandleihhäuser, der sternförmig angelegte Platz ist auch zum Zentrum illegaler Straßenprostitution geworden. Explosionsartig hat sich diese in den vergangenen Jahren entwickelt: Athens Bürgermeister Giorgos Kaminis spricht von einem Anstieg von 1.500 Prozent. Bei einem Angebot von etwa 20.000 Prostituierten leidet auch der Preis: "Mehr als fünf Euro pro Stunde verlangt hier kaum eine Frau", sagt Dimou.

65 Prozent junger Griechinnen ohne Arbeit

Unter dem ökonomischen Druck bröckeln aber auch soziale Netzwerke. Das Auffangen vor der Obdachlosigkeit durch FreundInnen, Bekannte oder die Familie hält diesem Druck oft nicht mehr stand. Zoé, die sich auch um eine warme Mahlzeit anstellt, wird derzeit noch von ihrem familiären Netz aufgefangen. Einen Job hatte die 22-Jährige noch nie, und ein Studium ist derzeit für sie nicht finanzierbar.

Sie zählt laut dem griechischen Statistikamt (El.Stat.) zu jenen 65 Prozent junger Griechinnen, die keine Arbeit haben. Die meisten leben vom Ersparten ihrer Verwandten, so auch sie. Unterstützung kommt von ihren Großeltern, denn ihre Mutter, Krankenpflegerin in einem staatlichen Spital, erhält seit drei Monaten ihr Gehalt (800 Euro brutto) nicht mehr; KollegInnen in der psychiatrischen Abteilung bereits seit neun Monaten. "Sie gehen aber trotzdem arbeiten in der Hoffnung, dass sie ihr Gehalt irgendwann bekommen. Wenn sie kündigen, bekommen sie nirgendwo mehr Arbeit", meint Zoé.

Auf Operation warten

In der Hoffnung, dass PflegerInnen und ÄrztInnen weiterhin arbeiten gehen, lebt Areti Dimou. Seit zwei Monaten wartet sie bereits auf einen Operationstermin – und es sollte bald passieren, denn "ab August bin ich nicht mehr krankenversichert, dann kann ich mir den gynäkologischen Eingriff nicht mehr leisten". Arbeitslosengeld hat sie nie bekommen, weil sie stets befristete Arbeitsverträge hatte.

Diese Art von Kettenverträgen setzte sie bereits als Angestellte unter Druck, so dass sie monatlich möglichst viel Geld zur Seite legte – Geld, das sie jetzt dringend braucht, auch wenn sie sich eine sparsame Strategie zurechtgelegt hat: "Ich koche nur mehr zweimal in der Woche, hin und wieder esse ich bei meiner Mutter. Geheizt habe ich diesen Winter nie. Ich fahre nur in den dringendsten Fällen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, habe kein Auto, gehe nicht mehr Kaffeetrinken oder abends aus. Ich kaufe mir eigentlich nur mehr das Wichtigste." Wie viele andere AthenerInnen auch. "Viele leben vom Ersparten. Wenn das aus ist, müsste das System eigentlich implodieren", spekuliert sie.

Für Theanó M. hingegen ist das System bereits implodiert. Über Kalkulationen wie Dimou denkt sie seit längerer Zeit nicht mehr nach: "Das sind schon fast Luxusprobleme", lächelt die Frau. Am Weg Richtung Akademias denkt sie erst einmal daran, wie sie die nächste Nacht gut überstehen soll. (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at, 3.3.2013)