Anorexie-Erkrankte Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn: "Wenn ich die Sucht nicht mehr habe, was habe ich denn dann?"

Cover: Stefanie Heider

Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn: Kontrolliert außer Kontrolle. Das Tagebuch einer Magersüchtigen.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag 2012,
€ 10,30

Cover: Schwarzkopf & Schwarzkopf

Lieber wäre sie gestorben als normalgewichtig zu sein. Ein normales Gewicht zu haben, das ja hieße nichts Besonderes mehr zu sein, sondern bloß Durchschnitt. Eine unter vielen, unauffällig und unbemerkt. Der Norm zu entsprechen bedrohte Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn so sehr, dass sie sogar am kritischsten Punkt ihrer Krankheit am Hungern festhielt. Bereits in akuter Lebensgefahr mit nur noch 29 Kilo war ihr einziges Ziel: "Ich will dünn sein. So dünn wie niemand anders".

Magersucht als Identitätsstifterin

In "Kontrolliert außer Kontrolle" beschreibt die 20-jährige Autorin ihren vierjährigen Kampf gegen die Anorexie. Sie schildert die unzähligen Versuche, sich von der Sucht zu befreien, die festen Vorsätze, wieder zu essen und zuzunehmen. Die vielen Therapien und Aufenthalte in Kliniken und Wohngruppen für Mädchen mit Essstörungen. Die körperlichen und psychischen Qualen. Das Hoffen auf Gesundung und die Verzweiflung darüber, immer wieder zu scheitern. Das ewige Auf und Ab: ein paar Gramm zunehmen und gleich darauf ein Kilo abnehmen. Zwei innere Stimmen halten sie unaufhörlich in Schach. Während die „gesunde" sagt, sie solle essen, um zu leben, suggeriert ihr die "kranke": Du bist nur dann gut, wenn du noch magerer wirst. Erklären kann sie sich "diese dumme Krankheit, die schlecht für mich ist und mich trotzdem immer so glücklich macht", nur dadurch, dass sie ihr Halt gibt. Die Anorexie ist zu ihrer Identität geworden: "Wenn ich die Sucht nicht mehr habe, was habe ich denn dann?"

Obwohl Hanna Blumroth heute ein relativ gesundes Gewicht halten kann, geheilt ist sie dennoch nicht. "Ich will immer noch stark an der Magersucht festhalten und 'Hanna, die Magersüchtige' bleiben", gesteht sie in einem Interview gegenüber "Die Welt", "aber andererseits will ich sie auch loswerden und ein neues Leben starten". Der Zwiespalt ist geblieben und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Anorexie zu besiegen. Oder ob lediglich gelernt werden kann, damit zu leben.

Es begann ganz harmlos

Ebenso ungeklärt sind auch die Gründe für den Ausbruch ihrer Krankheit. "Ganz ehrlich, ich kann es nicht sagen", schreibt Blumroth, vielleicht kam "einfach viel zu viel auf einmal": der Tod ihres Vaters, der Einzug des Freundes ihrer Mutter, der sich als "neuer Vater" gebärdet, gebündelt mit der Angst, ihre Mutter nicht mehr für sich allein zu haben. Ganz langsam schleicht sich die Sucht ein. Unter dem Motto "bewusste Ernährung und Fitness" beginnt Hanna ihren Körper zu kontrollieren. Immer häufiger lässt sie "ungesunde" Nahrungsmittel wie Zucker und Fett weg und isst bald nur noch Salat und Gemüse. Hat sie einmal „über die Stränge geschlagen", fühlt sie sich "fett und hässlich" und erbricht absichtlich. Der Zeiger auf der Waage wird zum alleinigen Stimmungsbarometer. Je weniger sie anzeigt, umso besser. Sie ist "stolz über die verlorenen Kilos, stolz über die Disziplin".

Hungern als neuer Lebensinhalt

Doch die Euphorie, ihren Körper im Griff zu haben, währt nur kurz. Mit dem schwindenden Gewicht verliert Hanna nicht nur an Kraft, sondern auch das Interesse an sozialen Kontakten. Mit jedem Tag zieht sie sich mehr zurück, all ihre Gedanken kreisen einzig und allein um ihren neuen Lebensinhalt: so wenig zu essen wie nur möglich. Bald hat Hanna nur mehr 39 Kilo. Ihre Umwelt, allen voran ihre Mutter, reagiert alarmiert und versucht mit allen Mitteln, Hanna zum Essen zu bewegen. Zu spät. Je besorgter ihre Mitmenschen, umso mehr fühlt sie sich bestätigt, auf dem richtigen Weg zu sein. Wenn ihr gesagt wird, sie schaue furchtbar schlecht aus, empfindet sie es als Kompliment, das sie nur noch mehr anspornt, ihren Ehrgeiz schürt. "Die sind ja nur neidisch, weil ich dünner bin", denkt sie. Sie gibt vor, zu essen, doch heimlich hungert sie weiter. Frühstücksbrote verschwinden im Katzenklo, in der Toilette oder unter ihrem Pullover. Wenn sie vom Arzt oder der Mutter gewogen wird, trinkt sie davor  literweise Wasser oder trägt mehrere Kleidungsschichten übereinander, um ein höheres Gewicht vorzugaukeln. Ihre Tricks werden immer gefinkelter. Und Hanna immer dünner.

Die körperlichen Qualen mehren sich. Übelkeit, Schwäche, dauerndes Frieren, ständiger Hunger, Schlaflosigkeit, schlaflos vor Hunger: "Wenn ich aufwache, kann ich stundenlang nicht mehr einschlafen, weil ich tierischen Hunger habe. Jeder normale Mensch würde dann aufstehen und sich etwas zu essen holen. Ich nicht ... Ich mache es nicht und ich kann es auch nicht. Es ist wie eine Sperre. Irgendetwas hält mich immer zurück".

Aufhören ist nicht mehr möglich

Es folgen mehrere Aufenthalte in Kliniken, mit kleinen Verbesserungen ihres Zustandes. Dazwischen geht es immer wieder bergab. "Ich kann nicht aufhören. ES kann nicht aufhören... Jetzt ist nur noch eine Stimme da, die mich nicht mehr aufhören lässt. Mich nicht mehr ruhig schlafen lässt. Mir ständig ein schlechtes Gewissen macht. Mich ständig dazu bringt, Sport zu treiben... Mir sagt, dass ich nicht zu dünn bin. Mir immer wieder sagt: Je weniger, desto besser! Und ich kann sie einfach nicht abstellen". Doch irgendwann bleibt nur noch eines, die pure Angst, Todesangst: "Wenn ich jetzt einschlafe, wache ich dann am nächsten Morgen auch auf, oder bleibt mein Herz stehen?" Hanna weiß: So kann sie nicht weiter machen.

Dieses Buch geht unter die Haut. Zeigt es doch auf erschreckende Weise, wie unglaublich schnell frau in eine Essstörung geraten kann, wie fürchterlich schmerzvoll – sowohl physisch als auch psychisch - sich die Krankheit erweist und wie schwierig es ist, sie zumindest soweit zu überwinden, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. "Es braucht viel Zeit zu lernen, sich seinen Ängsten zu stellen", schreibt Hanna Blumroth am Ende ihres Buches. "Man ist nicht glücklicher, weil man dünner ist. Das ist nur Pseudoglück. Ich kann nur sagen, dass das eine scheiß Krankheit ist, aus der man ohne Hilfe nicht herauskommt. Und man muss es wollen. Sonst können einem weder Klinik noch Arzt helfen. Man muss es wollen und durchziehen, so früh wie möglich". (Dagmar Buchta, dieStandard.at, 10.3.2013)