Was beim Busfahren in Wien alles passieren kann. Die Wiener Linien haben ziemlich genaue Vorstellungen davon.

Foto: Wiener Linien

Zwei gutsituierte, gepflegte Frauen sitzen im Bus und freuen sich über das wohlgeformte Hinterteil eines Mannes, der ihnen gerade den Rücken zukehrt. Klar, so "etwas" hätten sie nicht gesehen, wenn sie wie üblich den eigenen PKW verwendet hätten ...

User Alexander N. versteht die Welt nicht mehr: Warum gibt es keinen Aufschrei wegen des Plakats, das die Wiener Linien derzeit gerade über Wien pflastern? Das Schweigen darüber könne nur Ausdruck einer allgemeinen "Doppelmoral" unserer Gesellschaft sein, die Sexismus gegenüber Frauen und Mädchen erkennt, den gegenüber Männern aber nicht.

Kein leicht einzuordnendes Sujet

Nun, wir schweigen nicht darüber. Gerade weil es nicht so einfach zu beantworten ist, was hier eigentlich zu sehen ist: Sexismus und damit Abwertung gegenüber Männern aufgrund ihres Geschlechts? Ironische Umkehrung eines objektivierenden Blickes, der üblicherweise Frauen trifft? Possenhafte Inszenierung von Wien als neuer "Cougar"-Town? Für alle diese Interpretationen gibt es Anzeichen in diesem Sujet.

Bereits in der jüngsten Sexismus-Debatte kam von Männern immer wieder der Einwand, dass Sexismus doch auch Männer treffen könne, zum Beispiel auf der Tanzfläche oder im Arbeitsleben. Die meisten feministischen Aktivistinnen vertraten jedoch den Standpunkt, dass die Sexualisierung und Objektivierung einer Person nur dann als Sexismus zu werten sei, wenn sie innerhalb eines gesellschaftlichen Machtgefälles stattfinden würde. Nachdem die herrschenden Machtverhältnisse aber immer noch zugunsten der Männer (ökonomisch, sozial, in Bezug auf körperliche Gewalt) ausgelegt sind, könnten Übergriffe von Frauen gegenüber Männern jedoch nicht als sexistisch gewertet werden.

Fluide Machtgefüge

Es ist wahr, dass Sexismus immer innerhalb eines gesellschaftlichen Machtgefälles stattfindet und in den allermeisten Fällen sind die Frauen die Opfer dieser Strukturen. Aber im Jahr 2013 zu behaupten, dieses sei immer und grundsätzlich zugunsten von Männern verteilt, ist so nicht haltbar. Macht ist fluid und längst nicht mehr so eindeutig und ungebrochen bestimmten Gruppen zuzuschreiben wie zum Beispiel in den 1960ern, jener Zeit, als der Begriff "Sexismus" von der Zweiten Frauenbewegung geschaffen und geprägt wurde. Insofern kann Objektivierung und Sexualisierung von Männern – je nach gesellschaftlicher Einbettung einer Situation – sehr wohl sexistisch sein.

Das vorliegende Sujet kreist um dieses Problem: Hier wird eindeutig ein – noch dazu kopfloser – Männerkörper sexualisiert und objektiviert. Zudem kann man auch noch ökonomische und soziale Unterschiede zwischen Betrachterinnen und Objekt ausmachen – auf der einen Seite die gutsituierten, gepflegten Frauen, auf der anderen Seite der einfach in Jeans und T-Shirt gekleidete, muskulöse, junge Männerkörper.

Reproduktion sexueller Normen

Zu sehen ist auf dem Sujet aber auch noch, dass es den Frauen irgendwie peinlich ist, auf diese Weise zu begehren – so schnörkellos und objektorientiert, wie man es ja gemeinhin Männern unterstellt. Das Bild spielt also mit herkömmlichen Stereotypen von Geschlecht, löst sie aber nicht selbstbewusst auf.

Sexismus als Verbreitung von Geschlechterklischees liegt hier vor allem gegenüber dem männlichen Geschlecht vor, aber eben auch gegenüber Frauen, die keinen souveränen Ausdruck für ihr sexuelles Begehren zeigen dürfen.

Keine Chance für "ausgleichende Gerechtigkeit"

Ganz sicher, und da sind sich auch jene Feministinnen einig, die nicht von Sexismus gegenüber Männern sprechen wollen, ist kein Unrecht ausgelöscht, wenn es schlicht auf beide Geschlechter angewendet wird: Argumente wie "ausgleichende Gerechtigkeit" sollten in gesellschaftlichen Machtfragen keinen Platz haben. Schließlich geht es um das physische und psychische Wohlergehen und die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen und nicht um eine Nivellierung dieser Möglichkeiten aller nach unten: die steigenden Essstörungsraten gerade auch bei jungen Männern sollten uns zu denken geben. (Ina Freudenschuß, dieStandard.at, 12.3.2013)