Marga Spiegel hat 37 Familienmitglieder durch den Holocaust verloren. Nur sie, ihr Mann und ihre Tochter überlebten.

Foto: LIT Verlag

Marga Spiegel:
"100 Jahre – 4 Leben. Eine deutsche Jüdin erzählt“
LIT-Verlag 2012, ISBN-10: 3643117671, € 34,90

Foto: LIT Verlag

"Kann es eine Heimatstadt zulassen, dass ein unbescholtener Bürger in seiner Wohnung überfallen und geschlagen wird? Kann sie zulassen, dass seine Frau misshandelt wird, weil sie zu ihrem Kind eilen will, das laut schreit? Und kann eine 'Heimat'-Stadt zusehen, wenn diese Frau in der Folge mit Schmährufen belästigt und mit Steinen beworfen wird? Und wofür? Warum? Nur, weil sie Juden sind?“

Die Pflicht einer Überlebenden

In ihrem Buch "100 Jahre – 4 Leben. Eine deutsche Jüdin erzählt" gibt die heute 100-jährige Marga Spiegel einen Rückblick auf ihr langes Leben. In vier Abschnitte teilt sie diese lange Zeit - ihre noch recht behütete Jugend mit dem aufkeimenden Antisemitismus, die Zeit in Hitler-Deutschland, die drei Jahre versteckt in Deutschland und schließlich die Jahre nach dem NS-Regime, in denen sie und ihr Mann wegen ihrer jüdischen Herkunft weiterhin bedroht wurden. Überstrahlt waren all diese Jahre durch das Trauma, fast alle ihre Verwandten – 37 Personen insgesamt - durch ein mörderisches Regime verloren zu haben. Nur sie selbst, ihr Mann und ihre Tochter überlebten.

Dieses "unfassbare Glück" überlebt zu haben, war dann auch der maßgebliche Grund für Marga Spiegel, sich ihren schmerzvollen alptraumhaften Erinnerungen auszusetzen, um ihre Geschichte aufzuschreiben: "Meine Aufzeichnungen haben mich weit in die Vergangenheit zurückgerissen. Ich fiel in regelrechte Depressionen, konnte nachts nicht schlafen…", schreibt sie. Doch das Pflichtgefühl, die Wahrheit über den Holocaust als eine von nur noch wenigen ZeitzeugInnen weiter zu geben, war stärker. "Das Geschehene darf nicht vergessen werden".

Der Antisemitismus lebt

Ein Einschnitt war etwa die Erkenntnis, dass die Feindlichkeit und der Hass gegenüber Jüdinnen und Juden auch nach der NS-Zeit in Deutschland zu spüren blieb. Es begann damit, dass Georg Szimczak, der die Familie Spiegel in der Pogromnacht (siehe Eingangszitat) misshandelte, zwar 1948 verurteilt, aber bereits 1950 amnestiert wurde mit der Begründung, der Verurteilte hätte nicht "aus so niedrigen Instinkten gehandelt und sich so aktiv betätigt“, dass er "die tiefe Missachtung der Allgemeinheit“ verdiene. Und es ging derart weiter, dass die Spiegels bis in die späten 1990er-Jahre hinein telefonisch mit Beleidigungen wie "Ihr kommt noch alle dran“, "In zehn Minuten bist du reif, Jude" bedroht wurden und Polizeischutz benötigten. Den Grund für die Verfolgung sieht Marga Spiegel darin, dass der "Antisemitismus bis heute lebt". Es könnte jedoch auch sein, dass die Autorin als geborene Rothschild aufgrund ihres bekannten Namens zur feindlichen Zielscheibe wurde. 

"Jeder hatte 'seinen' Juden"

Wie war die Verfolgung und bestialische Vernichtung von Millionen von Menschen jüdischen Glaubens überhaupt möglich? Das Unglaubliche beschäftigt Marga Spiegel unaufhörlich: "Bis ans Ende meiner Tage werde ich nicht verstehen, wie der Holocaust in einem Land mit 'tüchtigen' Menschen, Denkern, Dichtern, Ingenieuren und Erfindern passieren konnte, ohne jedes Eingreifen". Ihre einzige Erklärung: "Es war möglich, weil die von Hitler propagierte und programmierte Ausrottung den Leuten passte, weil jeder 'seinen Juden' loswerden wollte: den Banker, die Rothschilds, den Kaufmann, den Konkurrenten usw.". Wenn sie danach sagten – "wir hatten Angst und konnten nichts tun" – sei es bereits zu spät gewesen. Denn in ihrer beschworenen Angst hätten sie schon gewusst, "dass da etwas grauenvoll Konkretes seinen unheimlichen Gang nahm, sahen sie die durch die Straßen getriebenen Menschen, junge und alte, bemerkten das Fehlen des Kollegen im Betrieb, der Banknachbarin in der Schule". Und doch, das gehört glücklicherweise auch zu Marga Spiegels Erfahrungen, gab und gibt es "welche, denen das Menschsein höchstes Gut bleibt, was auch geschieht". Sie selbst fand solche Menschen in den Bauernfamilien, die ihrer kleinen Familie das Leben retteten.

"Nachbarn unter Nachbarn"

In ihrem Rückblick auf ihr langes Leben erinnert Marga Spiegel nur die ersten Jahre als wirklich unbeschwert und glücklich. Geboren am 21. Juni 1912 als Marga Rothschild, wuchs sie im hessischen Dorf Oberaula auf. Der kleinen Gemeinschaft gehörten neben etwa vierzig jüdischen Familien viele christliche an, die neben und miteinander lebten – friedlich, wie die Autorin betont. Es war Usus, dass man sich austauschte, half und Ratschläge gab. Differenzen zwischen jüdischen und christlichen BewohnerInnen habe es nicht gegeben.

Doch bereits Ende der 1920er-Jahre kippte die Harmonie, langsam und schrittweise. Marga war 16 Jahre alt, als sie und ihre jüdischen KollegInnen vom deutschnational gesinnten Direktor ihrer Schule immer öfter gepiesackt wurden: Zynische Aussagen wie "Judenkinder können doch nun einmal besser rechnen. Darum sind Juden auch alle reich“ standen auf der Tagesordnung, und es wurde ihnen mehr Leistung abverlangt. Der antisemitische Samen war gesät und schob sich immer deutlicher wie ein Keil zwischen jüdische und "arische" Kinder.

"Der Weg ins Dunkel“

Dann "ging alles sehr schnell“, berichtet Marga Spiegel. "Bald lag auch unser Geschäft dar nieder", der "Einkauf bei Juden" wurde boykottiert, und viele verloren ihre Stellen durch "Arisierungen". "Es breitete sich Angst aus unter den jüdischen Bürgern. Man konnte keine normale Gastwirtschaft mehr betreten, kein Kino besuchen. Wir wurden immer mehr von allem ausgeschlossen". Lebensbedrohliche Übergriffe von Nazis gehörten zum Alltag, "man ahnte, dass es schlimmer werden würde", aber das ganze erschreckende Ausmaß der systematischen Vernichtung habe man 1938 noch nicht ahnen können.

Doch bereits im Oktober 1939 erfolgte die Ausweisung aller Jüdinnen und Juden aus Ahlen, wo die Familie Spiegel wohnte. Bald darauf flüsterte man von Transporten nach Osten, von Arbeitseinsätzen. "Es wurde gemunkelt, das sei der Weg ins Dunkel – ein Weg, den wir alle zu gehen hatten, aber von dem niemand genau wusste, wo er hinführte“. 1943 erhielten die Spiegels wie viele Andere auch den Befehl, sich zu einem Transport einzustellen, in getarnter Form. Ihre Arbeitspapiere seien zu prüfen, hieß es. "Wie viele gingen mit nichts in der Hand als einer Scheibe Brot?“, so Marga Spiegel, und "nicht einer kehrte zurück…".

Überleben durch Zivilcourage

Die Spiegels hatten das Unheil vorausgesehen und waren rechtzeitig untergetaucht, zuerst in eine entlegene Baracke, von der aus der endgültige Schritt in die Illegalität einfacher schien. Um ihre Spuren noch unkenntlicher zu machen, trennten sie sich kurze Zeit später. Marga kam mit Tochter Karin auf dem Bauernhof der Familie Aschoff unter, wo sie die nächsten Jahre als "Ausgebombte" unter dem Decknamen Krone verbrachten, und Margas Mann Siegmund fand bei dem Bauern Hubert Pentrop Unterschlupf.

Zum Dank für ihre großartige Zivilcourage widmete Marga Spiegel diesen Menschen die Bücher "Retter in der Nacht" (1965) und "Bauern als Retter" (2009), das mit Veronika Ferres in der Rolle der Marga Spiegel verfilmt wurde. Bücher, die trotz allen Schmerzes der grauenvollen Erinnerung notwendig waren: "Aber die Erinnerung gibt auch Kraft … und Hoffnung, etwas weitergeben zu können". (Dagmar Buchta, dieStandard.at 14.4.2013)