Emel Zeynelabidin: "Ich bin kein extremes Beispiel." Die Filmemacherin Maria Müller hat sich in ihrem Dokumentarfilm "Hüllen" (2010) mit der Geschichte von Emel Zeynelabidins beschäftigt.

Foto: Emel Zeynelabidin

Emel Zeynelabidin 
Erwachsen wird man nur im Diesseits
Verlag 3.0
150 Seiten, 13 Euro

Foto: Verlag 3.0

Kopftuch und Religion gehören für Emel Zeynelabidin nicht unbedingt zusammen.

Foto: Andy Urban

Sie war Vorsitzende eines islamischen Frauenvereins, verheiratet, gebar sechs Kinder und ist die Tochter des Gründers der islamischen Organisation Milli Görüs in Deutschland. Das Kopftuch gehörte für Autorin Emel Zeynelabidin ("Erwachsen wird man nur im Diesseits") dazu, bis sie es vor acht Jahren zur großen Überraschung ihres gesamten sozialen Umfeldes ablegte. Auslöser dafür war unter anderem die öffentliche Debatte in Deutschland Anfang der 00-Jahre, bei der ein mögliches Kopftuch-Verbot in öffentlichen Einrichtungen diskutiert wurde.

Der viel kritisierte Umgang (dieStandard.at: Zeigen Femen Muslimas den Mittelfinger?) der populären Nackt-Aktivistinnen von Femen mit Kopftuchträgerinnen hat das Thema Verhüllung wieder aufwallen lassen. Emel Zeynelabidin bedauert im Gespräch mit dieStandard.at, dass hier nur Extreme - Nackte versus Verhüllte -  aufeinanderprallen. Es sollte vielmehr über die heutige Zweckentfremdung des Kopftuches geredet werden und darüber, welches Frauen- und Männerbild mit dem Kopftuch vermittelt wird.  

dieStandard.at: Frau Zeynelabidin, sie haben dreißig Jahre das Kopftuch getragen und es vor acht Jahren abgelegt. Würden Sie sich heute als Kopftuchgegnerin bezeichnen?

Zeynelabidin: Überhaupt nicht. Aber ich bin dagegen, wenn eine Frau ein Kopftuch trägt, ohne genau zu wissen, warum. Wenn sie sich, wie ich dreißig Jahre, nicht sachkundig machen. Ich bin heute nicht mehr organisiert und vor acht Jahren aus dem islamischen Frauenverein ausgetreten. Ich vertrete keine Organisation und möchte auch keine allgemeinen Antworten geben. Aber ich möchte aus meiner persönlichen Erfahrung und Perspektive antworten.

So will ich versuchen, jegliche Polarisierung zu vermeiden und ich möchte zwischen zwei Welten vermitteln: Der Welt der Muslime, die göttlichen Regeln folgt. Der Rest der Welt tickt anders und handelt aufgrund von Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren habe ich diese moderne Welt besser kennengelernt. Eine Vermittlung zwischen diesen Welten ist wichtig, denn jede ist von sich sehr überzeugt.

dieStandard.at: Was war für Sie der Anlass, Ihr Kopftuch nicht mehr tragen zu wollen?

Zeynelabidin: Ich habe nie negative Erfahrungen gemacht wegen meiner Kleidung. Ich habe studiert, habe sechs Kinder bekommen, war jahrelang Vereinsvorsitzende, habe eine Schule gegründet – ich war eine sehr moderne Frau. Ich habe mich wohlgefühlt in meiner Welt, aber durch bestimmte Ereignisse habe ich begonnen eine andere Perspektive auf mein Leben zu werfen. Ich bekam dadurch die Möglichkeit, Vergleiche zu ziehen und zu analysieren. Ich begann dann die muslimische Welt als sehr uniform denkend wahrzunehmen. Das kann ich sagen, weil ich selbst zu dieser Welt gehöre. Ich selbst bin heute gläubiger als früher, weil ich rausgefunden habe, was Muslimin-sein für mich bedeutet.

Auch die Kopftuchdebatte vor einigen Jahren war ein Anstoß,  mich genauer mit dem Kopftuch zu beschäftigen. Die Hintergründe der zwei Verhüllungsverse zeigten mir das: Im einen war davon die Rede, dass Frauen sich verhüllen müssen, um für Männer von Sklavinnen unterscheidbar zu sein. In einem anderen geht es darum, dass Männer durch weibliche Reize abgelenkt werden könnten. Es ging also immer um die Männer. Aus heutiger Sicht könnten wir uns fragen, warum hat man nicht bei der Lernfähigkeit der Männer angesetzt? Aber das war nun mal vor über 1.400 Jahren. Doch heute müssen wir uns schon fragen, ob wir das noch brauchen. Wir leben ja in einer modernen Zeit.

dieStandard.at: Vielen gläubigen Musliminnen scheint es nicht um den Willen der Männer zu gehen, sondern darum, dass sie selbst als Musliminnen sichtbar sind

Zeynelabidin: Aber den Glauben trägt man ja nicht auf dem Kopf! Der Glaube zeigt sich in einer gesamten Lebensäußerung. Wenn dieses Denken von damals heute noch in den Köpfen durch religiöse Erziehung in Familie und Schule installiert wird, dann sind wir, die nicht verhüllten Frauen, in den Augen der muslimischen Männer etwa die Sklavinnen von gestern? Ich finde das sehr bedenklich.

Darüber muss geredet und nachgedacht werden. Es geht darum, welche Frauenbilder in den Köpfen von Männern existieren und umgekehrt. Ist der Mann wirklich eine Gefahr für mich? Ist er nur an dem interessiert, was ich anhabe - tickt der wirklich so?

dieStandard.at: Welche Konsequenzen hatte es für Sie, als Sie das Kopftuch abnahmen?

Zeynelabidin: Dass ich mein Kopftuch, meine Gruppenzugehörigkeit kennzeichnende Bekleidung abgelegt habe, hat meinen Glaubensgeschwistern nicht gefallen. Dann hieß es, ich wäre vom Teufel besessen, nicht mehr gläubig. Das passiert, wenn man sich nicht mehr gruppenkonform verhält. Auch andere Frauen, die verhüllt sind und in einem sozialen Netz stecken, befürchten das. Das ist die Realität. Dass Veränderungen auch natürlichen Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung zugrunde liegen, wird leider als Erklärung ignoriert.

dieStandard.at: Kübra Gümüşay meinte in dem Interview (Kübra Gümüsay: "Nur ein Tamtam machen ist zu wenig"), wir sollten endlich über wichtigeres reden, als darüber, was Frauen tragen.

Zeynelabidin: Frau Gümüşay hat damit auch Recht, es gibt massenweise andere Probleme. Aber dadurch, dass wir seit einigen Jahren die Kopftuchdebatte haben, fallen Kopftuch tragende Frauen weit mehr auf als früher. Das wirkt wie eine Blockade in der Kommunikation. Wenn ein nicht muslimischer Mensch eine Kopftuch tragende Frau sieht, dann sieht er meistens nur die Kopftuch tragende Frau. Sie macht sich als Muslimin sichtbar, wie ich auch dreißig Jahre lang. Heute erkennt niemand mehr, dass ich z.B. türkisch-arabische Wurzeln habe, Muslimin bin und sechsfache Mutter. Das ist für mich eine interessante Erfahrung, wie die Kommunikation ohne und mit dem Kopftuch für mich verläuft bzw. früher verlaufen ist: Breiter gefächert, spontaner und ich habe auch Zugang zu Menschen, wie ich ihn früher nicht hatte.

dieStandard.at: Das Kopftuch ist zwischen frauenpolitisch Engagierten nach wie vor Konfliktstoff. Glauben Sie, dass ein Kopftuch Frauen daran hindert, emanzipiert zu sein?

Zeynelabidin: Ich kann eine Frau aufgrund ihrer Kleidung nicht als Frauenrechtlerin erkennen. Eine Frauenrechtlerin kann sich als solche am besten sichtbar machen, indem sie sich organisiert. Wünschenswert wäre es, wenn sich muslimische und nicht-muslimische Frauenrechtlerinnen zusammentun und voneinander lernen würden. Frauen müssen sich solidarisieren, egal aus welcher Ecke sie kommen. Die Kleidung sollte auch unter Frauen kein Kriterium sein, um sich abzugrenzen.

Die  meisten muslimischen Frauen heute kleiden sich sehr attraktiv, sie zeigen auch weibliche Reize. Die Verhüllung heute ist also nicht mehr das, was sie mal war. Sie wird völlig zweckentfremdet. Über diese Zweckentfremdung müsste auch geredet werden.

dieStandard.at: Aber dass die jüngeren Frauen das Kopftuches für sich neu gestalten, das ist doch ein Fortschritt.

Zeynelabidin: Ja, aber dann soll der Glaube da rausgehalten werden. Die Frauen könnten doch einfach sagen, dass sie das schick finden oder sich damit einer sozialen Gruppe zugehörig zeigen möchten.

Ich bezeichne mich als Gott verbunden. Daher fühle ich mich ausgegrenzt, wenn eine Frau mit Verhüllung mir sagt: Ich befolge mit der Verhüllung Gottes Gesetz. Da frag ich mich: Was ist mit mir? Missachte ich ein Gesetz Gottes? Deshalb finde ich diese Argumentation sehr problematisch. Auch diese Diskussion findet in der Öffentlichkeit nicht statt.

Diese Debatten, die wir stattdessen haben, sind lächerlich. Es geht immer nur ums Recht haben. Zu welchen Ergebnissen sind wir seit Beginn der Kopftuchdebatte gekommen?

dieStandard.at: Diese Debatte wird auch vom Buchmarkt befeuert, der sich besonders für Geschichten zu interessieren scheint, in denen der Islam als sehr gewalttätig darstellt wird. Geschichten, in denen sich Frauen quasi vom unterdrückenden Islam in den 'freien Westen' durchkämpfen. Ihr eigener Lebensweg zeugt hingegen davon, dass frau auch mit einem Kopftuch selbstbewusst und zufrieden sein kann.

Zeynelabidin: Das sind extreme Beispiele und diese bedienen Klischees. Ich bin kein extremes Beispiel. Mein Buch handelt von meiner Auseinandersetzung nach meiner "Enthüllung" und ist ein sehr sachliches Buch. Ich hab in meinem früheren Leben keine Gewalterfahrungen gemacht. Eine Literaturagentur wollte sogar nicht mir zusammenarbeiten, weil mir diese Gewalterfahrungen fehlten.

Mir geht es aber nicht darum, als Autorin Karriere zu machen. Ich habe, bevor ich mich enthüllte, einfach eine sehr schöne Geschichte erlebt, die auch eine Liebesgeschichte ist. Ich habe jemanden kennengelernt, der mir Kraft gegeben hat, mich auf diese neue Perspektive einzulassen - und zwar angstfrei. Die Konsequenzen, die mir blühten, waren dann für mich unerheblich.

dieStandard.at: Femen hat eine Diskussion über ihren Umgang mit MuslimInnen ausgelöst. Wie stehen Sie den Femen-Protesten gegenüber?  

Zeynelabidin: Ich finde das schlichtweg peinlich, was wir da in Berlin vor der Ahmadiyya-Moschee erlebt haben. Da sind zwei Extreme aufgetreten, die Nackten und die Verhüllten. Ich möchte mit beiden nichts zu tun haben. 

Bei Femen geht es nicht um tiefere Zusammenhänge, sondern um Pauschalierung. Nackt gegen das Patriachat oder die Sexindustrie – da  frage ich mich, was heißt das alles genau und mit welchen Mitteln wollen wir unsere Ziele erreichen? Das spielt sich alles nur auf Protestebene ab. Ich kann damit nichts anfangen. Auch die andere Seite macht es sich zu einfach. Aber das, was ich in den letzten Jahren getan habe, in die Tiefe gehen, sich selbst ehrlich zu betrachten – das ist nicht einfach. Ich wünsche mir, dass viele Frauen den Mut haben, diesen schwierigeren Weg zu gehen. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 15.5.2013)